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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. V. Fragment.
einem Mönchskloster, wenn die Mönche beym Gebete ihr geschornes Haupt gegen die Erde neigen,
lassen sich die frappanten und bedeutungsvollen Unterschiede dieser Grundlinien leicht übersehen und
hernach schätzen. Dieß kann auch geschehen, wenn sie im Chor ihre Andacht verrichten.



Wachende Menschen lassen sich selten recht beobachten -- Man hat hundert Gelegenheiten
sie zu sehen; aber selten Eine, sie ohne beleidigende Jndiscretion sicher zu beobachten! Schlafende
hingegen, wie lehrreich für den Physiognomisten! Zeichne! zeichne! einzelne Theile, einzelne Züge --
zeichne Umrisse nach Schlafenden! Zeichne besonders durch bloße Hauptlinien die Lagen der Schla-
fenden -- wie Körper, Haupt, Beine und Arme sich gegen einander verhalten -- Sie sind un-
beschreiblich bedeutsam -- besonders an Kindern -- Vergleiche die Form des Gesichtes und die La-
ge. Du wirst bewundernswürdige Harmonie finden. Jedes Gesicht hat eine eigne Lage des Kör-
pers und der Arme.



Nicht weniger bemerkungswerth sind Todte, und Gipsabgüsse von Todten. Die Be-
stimmtheit ihrer Züge ist viel schärfer, als an Lebenden und Schlafenden. Was das Leben wan-
kend macht, setzt der Tod fest. Was unbestimmt ist, wird bestimmt. Alles kömmt in sein Ni-
veau -- alle Züge in ihr wahres Verhältniß -- wenn nicht allzugewaltige Krankheiten und Zu-
fälle vorhergegangen sind. --



Nichts aber empfehle ich den Physiognomisten so sehr, als das Studium wahrer und un-
veränderlicher Gipsabgüsse. Wie lange, wie ruhig, wie von allen Seiten läßt sich ein solcher Ab-
guß betrachten! -- Man kann ihn setzen in welches Licht man will, man kann ihn von allen Sei-
ten silhouettiren und messen; auf alle Weise zerschneiden, und jedes Stück genau nachzeichnen, und
seine Gränzlinien alle beynahe mit mathematischer Genauigkeit bestimmen. Auf diese Weise festnet
der Physiognomist seine Blicke auf das Feste, Unveränderliche, auf die unwandelbare Wahrheit

einer

II. Abſchnitt. V. Fragment.
einem Moͤnchskloſter, wenn die Moͤnche beym Gebete ihr geſchornes Haupt gegen die Erde neigen,
laſſen ſich die frappanten und bedeutungsvollen Unterſchiede dieſer Grundlinien leicht uͤberſehen und
hernach ſchaͤtzen. Dieß kann auch geſchehen, wenn ſie im Chor ihre Andacht verrichten.



Wachende Menſchen laſſen ſich ſelten recht beobachten — Man hat hundert Gelegenheiten
ſie zu ſehen; aber ſelten Eine, ſie ohne beleidigende Jndiscretion ſicher zu beobachten! Schlafende
hingegen, wie lehrreich fuͤr den Phyſiognomiſten! Zeichne! zeichne! einzelne Theile, einzelne Zuͤge —
zeichne Umriſſe nach Schlafenden! Zeichne beſonders durch bloße Hauptlinien die Lagen der Schla-
fenden — wie Koͤrper, Haupt, Beine und Arme ſich gegen einander verhalten — Sie ſind un-
beſchreiblich bedeutſam — beſonders an Kindern — Vergleiche die Form des Geſichtes und die La-
ge. Du wirſt bewundernswuͤrdige Harmonie finden. Jedes Geſicht hat eine eigne Lage des Koͤr-
pers und der Arme.



Nicht weniger bemerkungswerth ſind Todte, und Gipsabguͤſſe von Todten. Die Be-
ſtimmtheit ihrer Zuͤge iſt viel ſchaͤrfer, als an Lebenden und Schlafenden. Was das Leben wan-
kend macht, ſetzt der Tod feſt. Was unbeſtimmt iſt, wird beſtimmt. Alles koͤmmt in ſein Ni-
veau — alle Zuͤge in ihr wahres Verhaͤltniß — wenn nicht allzugewaltige Krankheiten und Zu-
faͤlle vorhergegangen ſind. —



Nichts aber empfehle ich den Phyſiognomiſten ſo ſehr, als das Studium wahrer und un-
veraͤnderlicher Gipsabguͤſſe. Wie lange, wie ruhig, wie von allen Seiten laͤßt ſich ein ſolcher Ab-
guß betrachten! — Man kann ihn ſetzen in welches Licht man will, man kann ihn von allen Sei-
ten ſilhouettiren und meſſen; auf alle Weiſe zerſchneiden, und jedes Stuͤck genau nachzeichnen, und
ſeine Graͤnzlinien alle beynahe mit mathematiſcher Genauigkeit beſtimmen. Auf dieſe Weiſe feſtnet
der Phyſiognomiſt ſeine Blicke auf das Feſte, Unveraͤnderliche, auf die unwandelbare Wahrheit

einer
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[154/0184] II. Abſchnitt. V. Fragment. einem Moͤnchskloſter, wenn die Moͤnche beym Gebete ihr geſchornes Haupt gegen die Erde neigen, laſſen ſich die frappanten und bedeutungsvollen Unterſchiede dieſer Grundlinien leicht uͤberſehen und hernach ſchaͤtzen. Dieß kann auch geſchehen, wenn ſie im Chor ihre Andacht verrichten. Wachende Menſchen laſſen ſich ſelten recht beobachten — Man hat hundert Gelegenheiten ſie zu ſehen; aber ſelten Eine, ſie ohne beleidigende Jndiscretion ſicher zu beobachten! Schlafende hingegen, wie lehrreich fuͤr den Phyſiognomiſten! Zeichne! zeichne! einzelne Theile, einzelne Zuͤge — zeichne Umriſſe nach Schlafenden! Zeichne beſonders durch bloße Hauptlinien die Lagen der Schla- fenden — wie Koͤrper, Haupt, Beine und Arme ſich gegen einander verhalten — Sie ſind un- beſchreiblich bedeutſam — beſonders an Kindern — Vergleiche die Form des Geſichtes und die La- ge. Du wirſt bewundernswuͤrdige Harmonie finden. Jedes Geſicht hat eine eigne Lage des Koͤr- pers und der Arme. Nicht weniger bemerkungswerth ſind Todte, und Gipsabguͤſſe von Todten. Die Be- ſtimmtheit ihrer Zuͤge iſt viel ſchaͤrfer, als an Lebenden und Schlafenden. Was das Leben wan- kend macht, ſetzt der Tod feſt. Was unbeſtimmt iſt, wird beſtimmt. Alles koͤmmt in ſein Ni- veau — alle Zuͤge in ihr wahres Verhaͤltniß — wenn nicht allzugewaltige Krankheiten und Zu- faͤlle vorhergegangen ſind. — Nichts aber empfehle ich den Phyſiognomiſten ſo ſehr, als das Studium wahrer und un- veraͤnderlicher Gipsabguͤſſe. Wie lange, wie ruhig, wie von allen Seiten laͤßt ſich ein ſolcher Ab- guß betrachten! — Man kann ihn ſetzen in welches Licht man will, man kann ihn von allen Sei- ten ſilhouettiren und meſſen; auf alle Weiſe zerſchneiden, und jedes Stuͤck genau nachzeichnen, und ſeine Graͤnzlinien alle beynahe mit mathematiſcher Genauigkeit beſtimmen. Auf dieſe Weiſe feſtnet der Phyſiognomiſt ſeine Blicke auf das Feſte, Unveraͤnderliche, auf die unwandelbare Wahrheit einer

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/184>, abgerufen am 21.11.2024.