Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber das Studium der Physiognomik.
einer Physiognomie; -- Wahrheit und Grundfestigkeit, die immer der Hauptzielpunkt
aller seiner Beobachtungen seyn soll. Wer dieses Fundament aller Physiognomie nicht unter-
suchen will -- und nur auf die Bewegungen der Muskeln sich einschränkt, scheint mir den Theolo-
gen ähnlich, die einige Sittenlehren aus dem Evangelio heraus heben, und Christum selbst weder
berühren, noch sehen wollen.

Wer Abgüsse von gebornen Genieen und gebornen Thoren mit einander vergleicht, neben
einander zergliedert, ganz und theilweise zeichnet, mißt -- dessen Glaube an die Physiognomik wird
dem Glauben an seine eigne Existenz gleich kommen -- und seine Kenntniß anderer Menschen wird
nach und nach der Kenntniß seiner selbst ähnlich werden.

Wenn einmal der Stirnmesser, wie ich hoffe, nun bald, vielleicht ehe dieser Bogen ab-
gedruckt ist, seine Vollkommenheit erreicht, und der Schüler der Physiognomik die Anwendung da-
von sich leicht geläufig gemacht haben wird, so daß er nachher auf den bloßen Anblick auch ohne
Maaß die Kapazität und den Charakter der Stirn ziemlich genau wird bestimmen können; -- welche
Riesenschritte wird er in der Menschenkenntniß thun müssen! wenn er die Grundrisse, die Profile u.
s. f. der Stirnen von harten und weichen, schnellen und langsamen Charaktern auf sein Reißbret auf-
tragen und ihre Krümmungen und Winkel bestimmen kann!



Zu ähnlichem Zwecke rathe ich dem Physiognomisten, eine Sammlung von Schädeln von
bekannten Personen an -- rathe ich ihm Silhouetten von diesen Schädeln, die alle auf demselben
horizontalen Brete liegen müssen, abzunehmen -- und sodann auch Triangel, in die sich diese Um-
risse fassen lassen, zu bestimmen: Jch sage von Bekannten; denn er soll lernen, ehe er lehren will.
Er soll Bekanntes mit Bekanntem, unläugbaren äußerlichen Charakter mit unläugbarem innerm
vergleichen. Und erst, wenn er die Verhältnisse dieser beyden gefunden hat, unbekanntere angrän-
zende Verhältnisse und Charaktere aufsuchen -- Wer früh sich mit rathen abgiebt, wird früh aus-
gelacht, und früh muthlos. Wer physiognomisirt, dem werden immer Probleme vorgelegt, die
er auf der Stelle auflösen soll; thörichte Zumuthung! und noch thörichtere Anmaßung, ihr sogleich

entspre-
U 2

Ueber das Studium der Phyſiognomik.
einer Phyſiognomie; — Wahrheit und Grundfeſtigkeit, die immer der Hauptzielpunkt
aller ſeiner Beobachtungen ſeyn ſoll. Wer dieſes Fundament aller Phyſiognomie nicht unter-
ſuchen will — und nur auf die Bewegungen der Muskeln ſich einſchraͤnkt, ſcheint mir den Theolo-
gen aͤhnlich, die einige Sittenlehren aus dem Evangelio heraus heben, und Chriſtum ſelbſt weder
beruͤhren, noch ſehen wollen.

Wer Abguͤſſe von gebornen Genieen und gebornen Thoren mit einander vergleicht, neben
einander zergliedert, ganz und theilweiſe zeichnet, mißt — deſſen Glaube an die Phyſiognomik wird
dem Glauben an ſeine eigne Exiſtenz gleich kommen — und ſeine Kenntniß anderer Menſchen wird
nach und nach der Kenntniß ſeiner ſelbſt aͤhnlich werden.

Wenn einmal der Stirnmeſſer, wie ich hoffe, nun bald, vielleicht ehe dieſer Bogen ab-
gedruckt iſt, ſeine Vollkommenheit erreicht, und der Schuͤler der Phyſiognomik die Anwendung da-
von ſich leicht gelaͤufig gemacht haben wird, ſo daß er nachher auf den bloßen Anblick auch ohne
Maaß die Kapazitaͤt und den Charakter der Stirn ziemlich genau wird beſtimmen koͤnnen; — welche
Rieſenſchritte wird er in der Menſchenkenntniß thun muͤſſen! wenn er die Grundriſſe, die Profile u.
ſ. f. der Stirnen von harten und weichen, ſchnellen und langſamen Charaktern auf ſein Reißbret auf-
tragen und ihre Kruͤmmungen und Winkel beſtimmen kann!



Zu aͤhnlichem Zwecke rathe ich dem Phyſiognomiſten, eine Sammlung von Schaͤdeln von
bekannten Perſonen an — rathe ich ihm Silhouetten von dieſen Schaͤdeln, die alle auf demſelben
horizontalen Brete liegen muͤſſen, abzunehmen — und ſodann auch Triangel, in die ſich dieſe Um-
riſſe faſſen laſſen, zu beſtimmen: Jch ſage von Bekannten; denn er ſoll lernen, ehe er lehren will.
Er ſoll Bekanntes mit Bekanntem, unlaͤugbaren aͤußerlichen Charakter mit unlaͤugbarem innerm
vergleichen. Und erſt, wenn er die Verhaͤltniſſe dieſer beyden gefunden hat, unbekanntere angraͤn-
zende Verhaͤltniſſe und Charaktere aufſuchen — Wer fruͤh ſich mit rathen abgiebt, wird fruͤh aus-
gelacht, und fruͤh muthlos. Wer phyſiognomiſirt, dem werden immer Probleme vorgelegt, die
er auf der Stelle aufloͤſen ſoll; thoͤrichte Zumuthung! und noch thoͤrichtere Anmaßung, ihr ſogleich

entſpre-
U 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0185" n="155"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber das Studium der Phy&#x017F;iognomik.</hi></fw><lb/>
einer Phy&#x017F;iognomie; &#x2014; Wahrheit und Grundfe&#x017F;tigkeit, die immer der Hauptzielpunkt<lb/>
aller &#x017F;einer Beobachtungen &#x017F;eyn &#x017F;oll. Wer die&#x017F;es Fundament aller Phy&#x017F;iognomie nicht unter-<lb/>
&#x017F;uchen will &#x2014; und nur auf die Bewegungen der Muskeln &#x017F;ich ein&#x017F;chra&#x0364;nkt, &#x017F;cheint mir den Theolo-<lb/>
gen a&#x0364;hnlich, die einige Sittenlehren aus dem Evangelio heraus heben, und Chri&#x017F;tum &#x017F;elb&#x017F;t weder<lb/>
beru&#x0364;hren, noch &#x017F;ehen wollen.</p><lb/>
            <p>Wer Abgu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e von gebornen Genieen und gebornen Thoren mit einander vergleicht, neben<lb/>
einander zergliedert, ganz und theilwei&#x017F;e zeichnet, mißt &#x2014; de&#x017F;&#x017F;en Glaube an die Phy&#x017F;iognomik wird<lb/>
dem Glauben an &#x017F;eine eigne Exi&#x017F;tenz gleich kommen &#x2014; und &#x017F;eine Kenntniß anderer Men&#x017F;chen wird<lb/>
nach und nach der Kenntniß &#x017F;einer &#x017F;elb&#x017F;t a&#x0364;hnlich werden.</p><lb/>
            <p>Wenn einmal der <hi rendition="#fr">Stirnme&#x017F;&#x017F;er,</hi> wie ich hoffe, nun bald, vielleicht ehe die&#x017F;er Bogen ab-<lb/>
gedruckt i&#x017F;t, &#x017F;eine Vollkommenheit erreicht, und der Schu&#x0364;ler der Phy&#x017F;iognomik die Anwendung da-<lb/>
von &#x017F;ich leicht gela&#x0364;ufig gemacht haben wird, &#x017F;o daß er nachher auf den bloßen Anblick auch ohne<lb/>
Maaß die Kapazita&#x0364;t und den Charakter der Stirn ziemlich genau wird be&#x017F;timmen ko&#x0364;nnen; &#x2014; welche<lb/>
Rie&#x017F;en&#x017F;chritte wird er in der Men&#x017F;chenkenntniß thun mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en! wenn er die Grundri&#x017F;&#x017F;e, die Profile u.<lb/>
&#x017F;. f. der Stirnen von harten und weichen, &#x017F;chnellen und lang&#x017F;amen Charaktern auf &#x017F;ein Reißbret auf-<lb/>
tragen und ihre Kru&#x0364;mmungen und Winkel be&#x017F;timmen kann!</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p>Zu a&#x0364;hnlichem Zwecke rathe ich dem Phy&#x017F;iognomi&#x017F;ten, eine Sammlung von Scha&#x0364;deln von<lb/>
bekannten Per&#x017F;onen an &#x2014; rathe ich ihm Silhouetten von die&#x017F;en Scha&#x0364;deln, die alle auf dem&#x017F;elben<lb/>
horizontalen Brete liegen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, abzunehmen &#x2014; und &#x017F;odann auch Triangel, in die &#x017F;ich die&#x017F;e Um-<lb/>
ri&#x017F;&#x017F;e fa&#x017F;&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en, zu be&#x017F;timmen: Jch &#x017F;age von <hi rendition="#fr">Bekannten;</hi> denn er &#x017F;oll <hi rendition="#fr">lernen,</hi> ehe er lehren will.<lb/>
Er &#x017F;oll Bekanntes mit Bekanntem, unla&#x0364;ugbaren a&#x0364;ußerlichen Charakter mit unla&#x0364;ugbarem innerm<lb/>
vergleichen. Und er&#x017F;t, wenn er die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;er beyden gefunden hat, unbekanntere angra&#x0364;n-<lb/>
zende Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e und Charaktere auf&#x017F;uchen &#x2014; Wer fru&#x0364;h &#x017F;ich mit rathen abgiebt, wird fru&#x0364;h aus-<lb/>
gelacht, und fru&#x0364;h muthlos. Wer phy&#x017F;iognomi&#x017F;irt, dem werden immer Probleme vorgelegt, die<lb/>
er auf der Stelle auflo&#x0364;&#x017F;en &#x017F;oll; tho&#x0364;richte Zumuthung! und noch tho&#x0364;richtere Anmaßung, ihr &#x017F;ogleich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ent&#x017F;pre-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0185] Ueber das Studium der Phyſiognomik. einer Phyſiognomie; — Wahrheit und Grundfeſtigkeit, die immer der Hauptzielpunkt aller ſeiner Beobachtungen ſeyn ſoll. Wer dieſes Fundament aller Phyſiognomie nicht unter- ſuchen will — und nur auf die Bewegungen der Muskeln ſich einſchraͤnkt, ſcheint mir den Theolo- gen aͤhnlich, die einige Sittenlehren aus dem Evangelio heraus heben, und Chriſtum ſelbſt weder beruͤhren, noch ſehen wollen. Wer Abguͤſſe von gebornen Genieen und gebornen Thoren mit einander vergleicht, neben einander zergliedert, ganz und theilweiſe zeichnet, mißt — deſſen Glaube an die Phyſiognomik wird dem Glauben an ſeine eigne Exiſtenz gleich kommen — und ſeine Kenntniß anderer Menſchen wird nach und nach der Kenntniß ſeiner ſelbſt aͤhnlich werden. Wenn einmal der Stirnmeſſer, wie ich hoffe, nun bald, vielleicht ehe dieſer Bogen ab- gedruckt iſt, ſeine Vollkommenheit erreicht, und der Schuͤler der Phyſiognomik die Anwendung da- von ſich leicht gelaͤufig gemacht haben wird, ſo daß er nachher auf den bloßen Anblick auch ohne Maaß die Kapazitaͤt und den Charakter der Stirn ziemlich genau wird beſtimmen koͤnnen; — welche Rieſenſchritte wird er in der Menſchenkenntniß thun muͤſſen! wenn er die Grundriſſe, die Profile u. ſ. f. der Stirnen von harten und weichen, ſchnellen und langſamen Charaktern auf ſein Reißbret auf- tragen und ihre Kruͤmmungen und Winkel beſtimmen kann! Zu aͤhnlichem Zwecke rathe ich dem Phyſiognomiſten, eine Sammlung von Schaͤdeln von bekannten Perſonen an — rathe ich ihm Silhouetten von dieſen Schaͤdeln, die alle auf demſelben horizontalen Brete liegen muͤſſen, abzunehmen — und ſodann auch Triangel, in die ſich dieſe Um- riſſe faſſen laſſen, zu beſtimmen: Jch ſage von Bekannten; denn er ſoll lernen, ehe er lehren will. Er ſoll Bekanntes mit Bekanntem, unlaͤugbaren aͤußerlichen Charakter mit unlaͤugbarem innerm vergleichen. Und erſt, wenn er die Verhaͤltniſſe dieſer beyden gefunden hat, unbekanntere angraͤn- zende Verhaͤltniſſe und Charaktere aufſuchen — Wer fruͤh ſich mit rathen abgiebt, wird fruͤh aus- gelacht, und fruͤh muthlos. Wer phyſiognomiſirt, dem werden immer Probleme vorgelegt, die er auf der Stelle aufloͤſen ſoll; thoͤrichte Zumuthung! und noch thoͤrichtere Anmaßung, ihr ſogleich entſpre- U 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/185
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/185>, abgerufen am 21.11.2024.