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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber die Stirne.

Nun einzelne Bemerkungen.

1) Je länger die Stirn, desto vielfassender (ceteris paribus) und kraftloser.

2) Je gedrängter, kürzer, fester die Stirn, desto gedrängter, unluftiger, fester der
Charakter des Menschen.

3) Je bogenlinigter und eckloser die Umrisse, desto zärter und weicher; -- je gerader,
desto fester und härter der Charakter.

[Spaltenumbruch]

4) Voll-
6) "Eine kurze, kleine Stirn, die zugleich schmal
"ist, zeigt einen Menschen an, der alles schwer begreift,
"und dieser Einfalt wegen gern lügt.
7) "Eine runde Stirn zeigt einen cholerischen Men-
"schen an, der hoffärtig, zornig und rachgierig ist.
8) "Eine gar zu große Stirn bedeutet eine Neigung
"zum Hochmuth, und eine gar zu kleine Stirn eine
"Neigung zum Zorn und Geize.
9) "Es giebt auch Leute, deren Stirn ganz unbe-
"weglich
ist. Die Haut der Stirn kann nämlich nicht
"bewegt werden; wenn man die Augen nicht mit Ge-
"walt zusammenzieht oder aufhebt. Es giebt aber Leu-
"te, die ihre Augen immer niederschlagen, und daher
"aussehen, als wenn sie schlummerten. Bey diesem
"gewohnten Anblicke kann die Stirn nicht bewegt wer-
"den. Dergleichen Personen sind zu allen Dingen faul
"und verdrossen. Der wahre Grund dieser Unbeweg-
"lichkeit der Stirn liegt in der natürlichen Trägheit --
"Durch die Gewohnheit einer solchen gleichgültigen
"Trägheit verliert die Haut nach und nach gewisser-
"maßen ihre Beugsamkeit, die zur Bewegung der Stirn
"nöthig ist. -- Desto größer ist die Trägheit, wenn die
"Stirn dabey fleischig ist.
10) "Eine Stirn, die in der Mitte eingedrückt
"ist, ist ein Zeichen eines geizigen Menschen!" --
Nicht doch so schlechtweg! Solche unüberlegte Entschei-
dungen, wie schädlich der Menschheit und der Phy-
[Spaltenumbruch] siognomik! Geiz ist eine so komplizirte Leidenschaft --
hängt so sehr von äußerlichen Umständen, von Erzie-
hung u. s. w. ab, daß ich nicht glaube, daß man mit
gleichem Rechte sagen kann -- das ist eine geizige
Stirn, wie man hingegen zuverläßig sagen kann: Eine
verständige, gute, weichsinnige, harte, kühne, furcht-
same, sanfte, zornmüthige Stirn. Das ist wahr: Es
giebt Stirnen, von denen man sagen kann -- "Sol-
"che und solche Umstände werden für sie starke Versu-
"chungen zum Geize seyn." -- Wer geizig ist, hat Be-
dürfnisse, oder dichtet sich in Bedürfuisse, die er nicht
hat, hinein, und fühlt in sich keine eigne ständige Kraft,
keinen fließenden Quell, diesen wirklichen oder eingebil-
deten Bedürfnissen genug zu thun; fühlt also in einem
hohen Grade das Bedürfniß willkührlicher Mittel.
Die Erwerbung dieser Mittel kostet ihm vieles Nachden-
ken und Bemühen. Dadurch wird ihm das Mittel
selbst, das er so mühsam sich erwarb, so lieb, daß er
des ersten Zweckes drüber vergißt, und das Mittel
mehr liebt, als den Zweck. Die Wurzel also des
Geizes ist Jmagination, die sich viele Bedürfnisse
vorbildet -- Gefühl der Unmöglichkeit, diese Bedürf-
nisse sich aus dem Gesichte zu schaffen.
Gefühl der
Unvermögenheit, diese Bedürfnisse aus sich selbst, aus
eigner innerer Kraft zu befriedigen -- Lebhafte Jma-
gination, sich alle Mittel zur Befriedigung dieser Be-
dürfnisse so stark zu vergegenwärtigen, daß dieser Vor-
stellung
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Ueber die Stirne.

Nun einzelne Bemerkungen.

1) Je laͤnger die Stirn, deſto vielfaſſender (ceteris paribus) und kraftloſer.

2) Je gedraͤngter, kuͤrzer, feſter die Stirn, deſto gedraͤngter, unluftiger, feſter der
Charakter des Menſchen.

3) Je bogenlinigter und eckloſer die Umriſſe, deſto zaͤrter und weicher; — je gerader,
deſto feſter und haͤrter der Charakter.

[Spaltenumbruch]

4) Voll-
6) „Eine kurze, kleine Stirn, die zugleich ſchmal
„iſt, zeigt einen Menſchen an, der alles ſchwer begreift,
„und dieſer Einfalt wegen gern luͤgt.
7) „Eine runde Stirn zeigt einen choleriſchen Men-
„ſchen an, der hoffaͤrtig, zornig und rachgierig iſt.
8) „Eine gar zu große Stirn bedeutet eine Neigung
„zum Hochmuth, und eine gar zu kleine Stirn eine
„Neigung zum Zorn und Geize.
9) „Es giebt auch Leute, deren Stirn ganz unbe-
„weglich
iſt. Die Haut der Stirn kann naͤmlich nicht
„bewegt werden; wenn man die Augen nicht mit Ge-
„walt zuſammenzieht oder aufhebt. Es giebt aber Leu-
„te, die ihre Augen immer niederſchlagen, und daher
„ausſehen, als wenn ſie ſchlummerten. Bey dieſem
„gewohnten Anblicke kann die Stirn nicht bewegt wer-
„den. Dergleichen Perſonen ſind zu allen Dingen faul
„und verdroſſen. Der wahre Grund dieſer Unbeweg-
„lichkeit der Stirn liegt in der natuͤrlichen Traͤgheit —
„Durch die Gewohnheit einer ſolchen gleichguͤltigen
„Traͤgheit verliert die Haut nach und nach gewiſſer-
„maßen ihre Beugſamkeit, die zur Bewegung der Stirn
„noͤthig iſt. — Deſto groͤßer iſt die Traͤgheit, wenn die
„Stirn dabey fleiſchig iſt.
10) „Eine Stirn, die in der Mitte eingedruͤckt
„iſt, iſt ein Zeichen eines geizigen Menſchen!“ —
Nicht doch ſo ſchlechtweg! Solche unuͤberlegte Entſchei-
dungen, wie ſchaͤdlich der Menſchheit und der Phy-
[Spaltenumbruch] ſiognomik! Geiz iſt eine ſo komplizirte Leidenſchaft —
haͤngt ſo ſehr von aͤußerlichen Umſtaͤnden, von Erzie-
hung u. ſ. w. ab, daß ich nicht glaube, daß man mit
gleichem Rechte ſagen kann — das iſt eine geizige
Stirn, wie man hingegen zuverlaͤßig ſagen kann: Eine
verſtaͤndige, gute, weichſinnige, harte, kuͤhne, furcht-
ſame, ſanfte, zornmuͤthige Stirn. Das iſt wahr: Es
giebt Stirnen, von denen man ſagen kann — „Sol-
„che und ſolche Umſtaͤnde werden fuͤr ſie ſtarke Verſu-
„chungen zum Geize ſeyn.“ — Wer geizig iſt, hat Be-
duͤrfniſſe, oder dichtet ſich in Beduͤrfuiſſe, die er nicht
hat, hinein, und fuͤhlt in ſich keine eigne ſtaͤndige Kraft,
keinen fließenden Quell, dieſen wirklichen oder eingebil-
deten Beduͤrfniſſen genug zu thun; fuͤhlt alſo in einem
hohen Grade das Beduͤrfniß willkuͤhrlicher Mittel.
Die Erwerbung dieſer Mittel koſtet ihm vieles Nachden-
ken und Bemuͤhen. Dadurch wird ihm das Mittel
ſelbſt, das er ſo muͤhſam ſich erwarb, ſo lieb, daß er
des erſten Zweckes druͤber vergißt, und das Mittel
mehr liebt, als den Zweck. Die Wurzel alſo des
Geizes iſt Jmagination, die ſich viele Beduͤrfniſſe
vorbildet — Gefuͤhl der Unmoͤglichkeit, dieſe Beduͤrf-
niſſe ſich aus dem Geſichte zu ſchaffen.
Gefuͤhl der
Unvermoͤgenheit, dieſe Beduͤrfniſſe aus ſich ſelbſt, aus
eigner innerer Kraft zu befriedigen — Lebhafte Jma-
gination, ſich alle Mittel zur Befriedigung dieſer Be-
duͤrfniſſe ſo ſtark zu vergegenwaͤrtigen, daß dieſer Vor-
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[227/0257] Ueber die Stirne. Nun einzelne Bemerkungen. 1) Je laͤnger die Stirn, deſto vielfaſſender (ceteris paribus) und kraftloſer. 2) Je gedraͤngter, kuͤrzer, feſter die Stirn, deſto gedraͤngter, unluftiger, feſter der Charakter des Menſchen. 3) Je bogenlinigter und eckloſer die Umriſſe, deſto zaͤrter und weicher; — je gerader, deſto feſter und haͤrter der Charakter. 4) Voll- *) *) 6) „Eine kurze, kleine Stirn, die zugleich ſchmal „iſt, zeigt einen Menſchen an, der alles ſchwer begreift, „und dieſer Einfalt wegen gern luͤgt. 7) „Eine runde Stirn zeigt einen choleriſchen Men- „ſchen an, der hoffaͤrtig, zornig und rachgierig iſt. 8) „Eine gar zu große Stirn bedeutet eine Neigung „zum Hochmuth, und eine gar zu kleine Stirn eine „Neigung zum Zorn und Geize. 9) „Es giebt auch Leute, deren Stirn ganz unbe- „weglich iſt. Die Haut der Stirn kann naͤmlich nicht „bewegt werden; wenn man die Augen nicht mit Ge- „walt zuſammenzieht oder aufhebt. Es giebt aber Leu- „te, die ihre Augen immer niederſchlagen, und daher „ausſehen, als wenn ſie ſchlummerten. Bey dieſem „gewohnten Anblicke kann die Stirn nicht bewegt wer- „den. Dergleichen Perſonen ſind zu allen Dingen faul „und verdroſſen. Der wahre Grund dieſer Unbeweg- „lichkeit der Stirn liegt in der natuͤrlichen Traͤgheit — „Durch die Gewohnheit einer ſolchen gleichguͤltigen „Traͤgheit verliert die Haut nach und nach gewiſſer- „maßen ihre Beugſamkeit, die zur Bewegung der Stirn „noͤthig iſt. — Deſto groͤßer iſt die Traͤgheit, wenn die „Stirn dabey fleiſchig iſt. 10) „Eine Stirn, die in der Mitte eingedruͤckt „iſt, iſt ein Zeichen eines geizigen Menſchen!“ — Nicht doch ſo ſchlechtweg! Solche unuͤberlegte Entſchei- dungen, wie ſchaͤdlich der Menſchheit und der Phy- ſiognomik! Geiz iſt eine ſo komplizirte Leidenſchaft — haͤngt ſo ſehr von aͤußerlichen Umſtaͤnden, von Erzie- hung u. ſ. w. ab, daß ich nicht glaube, daß man mit gleichem Rechte ſagen kann — das iſt eine geizige Stirn, wie man hingegen zuverlaͤßig ſagen kann: Eine verſtaͤndige, gute, weichſinnige, harte, kuͤhne, furcht- ſame, ſanfte, zornmuͤthige Stirn. Das iſt wahr: Es giebt Stirnen, von denen man ſagen kann — „Sol- „che und ſolche Umſtaͤnde werden fuͤr ſie ſtarke Verſu- „chungen zum Geize ſeyn.“ — Wer geizig iſt, hat Be- duͤrfniſſe, oder dichtet ſich in Beduͤrfuiſſe, die er nicht hat, hinein, und fuͤhlt in ſich keine eigne ſtaͤndige Kraft, keinen fließenden Quell, dieſen wirklichen oder eingebil- deten Beduͤrfniſſen genug zu thun; fuͤhlt alſo in einem hohen Grade das Beduͤrfniß willkuͤhrlicher Mittel. Die Erwerbung dieſer Mittel koſtet ihm vieles Nachden- ken und Bemuͤhen. Dadurch wird ihm das Mittel ſelbſt, das er ſo muͤhſam ſich erwarb, ſo lieb, daß er des erſten Zweckes druͤber vergißt, und das Mittel mehr liebt, als den Zweck. Die Wurzel alſo des Geizes iſt Jmagination, die ſich viele Beduͤrfniſſe vorbildet — Gefuͤhl der Unmoͤglichkeit, dieſe Beduͤrf- niſſe ſich aus dem Geſichte zu ſchaffen. Gefuͤhl der Unvermoͤgenheit, dieſe Beduͤrfniſſe aus ſich ſelbſt, aus eigner innerer Kraft zu befriedigen — Lebhafte Jma- gination, ſich alle Mittel zur Befriedigung dieſer Be- duͤrfniſſe ſo ſtark zu vergegenwaͤrtigen, daß dieſer Vor- ſtellung F f 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/257>, abgerufen am 22.11.2024.