Wohl nannten die Alten die Nase honestamentum faciei.
Es ist, glaube ich, schon irgendwo gesagt: Jch halte die Nase für die Wiederlage des Gehirns. Wer die Lehre der gothischen Gewölbe halbweg einsieht, wird das Gleichnißwort Wie- derlage verstehen. Denn auf ihr scheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewölbes zu ruhen, das sonst in Mund und Wange elend zusammenstürzen würde.
Eine schöne Nase wird nie an einem schlechten Gesichte seyn. Man kann ein häßliches Ge- sicht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine schöne Nase und ein häßliches Gesicht. Auch finde ich tausend schöne Augen gegen eine einzige schöne Nase. Und wo ich sie fand, immer vortreff- liche, immer ganz außerordentliche Charakter. Non cuique datum est, habere nasum. Zu einer vollkommnen schönen Nase erfordre ich folgendes:
a) Jhre Länge soll der Stirnlänge gleich seyn. b) Bey der Wurzel muß eine kleine sanf- te Vertiefung seyn. c) Von vornen betrachtet muß der Rücken (dorsum, spina nasi) breit und beynahe parallel seyn, jedoch über der Mitte etwas breiter. d) Der Knopf der Nase, die Nasen- kuppe, der Nasenball (orbiculus) muß weder hart noch fleischig seyn, und sein unterer Umriß muß bestimmt und auffallend rein gezeichnet, nicht spitz und nicht sehr breit seyn. e) Die Nasenflügel (pinnae) müssen von vornen bestimmt gesehen werden, und die Löcher müssen sich drunter lieblich verkürzen. f) Jm Profile betrachtet, darf sie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer Länge ha- ben. g) Die Nasenlöcher müssen vornen etwas spitz, hinten runder, und überhaupt sanft geschweift seyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. h) Die Seiten der Nase oder des Nasengewölbes müssen beynahe wandartig seyn. i) Oben muß sie sich wohl an den Bogen des Augenknochens anschließen, und beym Auge muß sie wenigstens einen halben Zoll Brei- te haben. -- So eine Nase -- ist mehr werth als ein Königreich. Es giebt aber unzählige vor- treffliche Menschen mit häßlichen Nasen. Aber ihre Vortrefflichkeit ist wiederum ganz verschieden von anderer Menschen Vortrefflichkeit. Jch habe die reinsten, verständigsten, edelsten Geschöpfe
mit
Phys. Fragm.IVVersuch. K k
Fuͤnftes Fragment. Ein Wort uͤber die Naſe.
Wohl nannten die Alten die Naſe honeſtamentum faciei.
Es iſt, glaube ich, ſchon irgendwo geſagt: Jch halte die Naſe fuͤr die Wiederlage des Gehirns. Wer die Lehre der gothiſchen Gewoͤlbe halbweg einſieht, wird das Gleichnißwort Wie- derlage verſtehen. Denn auf ihr ſcheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewoͤlbes zu ruhen, das ſonſt in Mund und Wange elend zuſammenſtuͤrzen wuͤrde.
Eine ſchoͤne Naſe wird nie an einem ſchlechten Geſichte ſeyn. Man kann ein haͤßliches Ge- ſicht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine ſchoͤne Naſe und ein haͤßliches Geſicht. Auch finde ich tauſend ſchoͤne Augen gegen eine einzige ſchoͤne Naſe. Und wo ich ſie fand, immer vortreff- liche, immer ganz außerordentliche Charakter. Non cuique datum eſt, habere naſum. Zu einer vollkommnen ſchoͤnen Naſe erfordre ich folgendes:
a) Jhre Laͤnge ſoll der Stirnlaͤnge gleich ſeyn. b) Bey der Wurzel muß eine kleine ſanf- te Vertiefung ſeyn. c) Von vornen betrachtet muß der Ruͤcken (dorſum, ſpina naſi) breit und beynahe parallel ſeyn, jedoch uͤber der Mitte etwas breiter. d) Der Knopf der Naſe, die Naſen- kuppe, der Naſenball (orbiculus) muß weder hart noch fleiſchig ſeyn, und ſein unterer Umriß muß beſtimmt und auffallend rein gezeichnet, nicht ſpitz und nicht ſehr breit ſeyn. e) Die Naſenfluͤgel (pinnae) muͤſſen von vornen beſtimmt geſehen werden, und die Loͤcher muͤſſen ſich drunter lieblich verkuͤrzen. f) Jm Profile betrachtet, darf ſie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer Laͤnge ha- ben. g) Die Naſenloͤcher muͤſſen vornen etwas ſpitz, hinten runder, und uͤberhaupt ſanft geſchweift ſeyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. h) Die Seiten der Naſe oder des Naſengewoͤlbes muͤſſen beynahe wandartig ſeyn. i) Oben muß ſie ſich wohl an den Bogen des Augenknochens anſchließen, und beym Auge muß ſie wenigſtens einen halben Zoll Brei- te haben. — So eine Naſe — iſt mehr werth als ein Koͤnigreich. Es giebt aber unzaͤhlige vor- treffliche Menſchen mit haͤßlichen Naſen. Aber ihre Vortrefflichkeit iſt wiederum ganz verſchieden von anderer Menſchen Vortrefflichkeit. Jch habe die reinſten, verſtaͤndigſten, edelſten Geſchoͤpfe
mit
Phyſ. Fragm.IVVerſuch. K k
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0297"n="257"/><divn="3"><head><hirendition="#b">Fuͤnftes Fragment.<lb/><hirendition="#g">Ein Wort uͤber die Naſe.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>ohl nannten die Alten die Naſe <hirendition="#aq">honeſtamentum faciei.</hi></p><lb/><p>Es iſt, glaube ich, ſchon irgendwo geſagt: Jch halte die Naſe fuͤr die <hirendition="#fr">Wiederlage</hi> des<lb/>
Gehirns. Wer die Lehre der gothiſchen Gewoͤlbe halbweg einſieht, wird das Gleichnißwort <hirendition="#fr">Wie-<lb/>
derlage</hi> verſtehen. Denn auf ihr ſcheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewoͤlbes zu ruhen, das<lb/>ſonſt in Mund und Wange elend zuſammenſtuͤrzen wuͤrde.</p><lb/><p>Eine ſchoͤne Naſe wird nie an einem ſchlechten Geſichte ſeyn. Man kann ein haͤßliches Ge-<lb/>ſicht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine ſchoͤne Naſe und ein haͤßliches Geſicht. Auch<lb/>
finde ich tauſend ſchoͤne Augen gegen eine einzige ſchoͤne Naſe. Und wo ich ſie fand, immer vortreff-<lb/>
liche, immer ganz außerordentliche Charakter. <hirendition="#aq">Non cuique datum eſt, habere naſum.</hi> Zu<lb/>
einer vollkommnen ſchoͤnen Naſe erfordre ich folgendes:</p><lb/><p><hirendition="#aq">a)</hi> Jhre Laͤnge ſoll der Stirnlaͤnge gleich ſeyn. <hirendition="#aq">b)</hi> Bey der Wurzel muß eine kleine ſanf-<lb/>
te Vertiefung ſeyn. <hirendition="#aq">c)</hi> Von vornen betrachtet muß der Ruͤcken <hirendition="#aq">(dorſum, ſpina naſi)</hi> breit und<lb/>
beynahe parallel ſeyn, jedoch uͤber der Mitte etwas breiter. <hirendition="#aq">d)</hi> Der Knopf der Naſe, die Naſen-<lb/>
kuppe, der Naſenball <hirendition="#aq">(orbiculus)</hi> muß weder hart noch fleiſchig ſeyn, und ſein unterer Umriß muß<lb/>
beſtimmt und auffallend rein gezeichnet, nicht ſpitz und nicht ſehr breit ſeyn. <hirendition="#aq">e)</hi> Die Naſenfluͤgel<lb/><hirendition="#aq">(pinnae)</hi> muͤſſen von vornen beſtimmt geſehen werden, und die Loͤcher muͤſſen ſich drunter lieblich<lb/>
verkuͤrzen. <hirendition="#aq">f)</hi> Jm Profile betrachtet, darf ſie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer Laͤnge ha-<lb/>
ben. <hirendition="#aq">g)</hi> Die Naſenloͤcher muͤſſen vornen etwas ſpitz, hinten runder, und uͤberhaupt ſanft geſchweift<lb/>ſeyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. <hirendition="#aq">h)</hi> Die Seiten der<lb/>
Naſe oder des Naſengewoͤlbes muͤſſen beynahe wandartig ſeyn. <hirendition="#aq">i)</hi> Oben muß ſie ſich wohl an den<lb/>
Bogen des Augenknochens anſchließen, und beym Auge muß ſie wenigſtens einen halben Zoll Brei-<lb/>
te haben. — So eine Naſe — iſt mehr werth als ein Koͤnigreich. Es giebt aber unzaͤhlige vor-<lb/>
treffliche Menſchen mit haͤßlichen Naſen. Aber ihre Vortrefflichkeit iſt wiederum ganz verſchieden<lb/>
von anderer Menſchen Vortrefflichkeit. Jch habe die reinſten, verſtaͤndigſten, edelſten Geſchoͤpfe<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Phyſ. Fragm.</hi><hirendition="#aq">IV</hi><hirendition="#fr">Verſuch.</hi> K k</fw><fwplace="bottom"type="catch">mit</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[257/0297]
Fuͤnftes Fragment.
Ein Wort uͤber die Naſe.
Wohl nannten die Alten die Naſe honeſtamentum faciei.
Es iſt, glaube ich, ſchon irgendwo geſagt: Jch halte die Naſe fuͤr die Wiederlage des
Gehirns. Wer die Lehre der gothiſchen Gewoͤlbe halbweg einſieht, wird das Gleichnißwort Wie-
derlage verſtehen. Denn auf ihr ſcheint eigentlich alle die Kraft des Stirngewoͤlbes zu ruhen, das
ſonſt in Mund und Wange elend zuſammenſtuͤrzen wuͤrde.
Eine ſchoͤne Naſe wird nie an einem ſchlechten Geſichte ſeyn. Man kann ein haͤßliches Ge-
ſicht haben, und zierliche Augen. Aber nicht eine ſchoͤne Naſe und ein haͤßliches Geſicht. Auch
finde ich tauſend ſchoͤne Augen gegen eine einzige ſchoͤne Naſe. Und wo ich ſie fand, immer vortreff-
liche, immer ganz außerordentliche Charakter. Non cuique datum eſt, habere naſum. Zu
einer vollkommnen ſchoͤnen Naſe erfordre ich folgendes:
a) Jhre Laͤnge ſoll der Stirnlaͤnge gleich ſeyn. b) Bey der Wurzel muß eine kleine ſanf-
te Vertiefung ſeyn. c) Von vornen betrachtet muß der Ruͤcken (dorſum, ſpina naſi) breit und
beynahe parallel ſeyn, jedoch uͤber der Mitte etwas breiter. d) Der Knopf der Naſe, die Naſen-
kuppe, der Naſenball (orbiculus) muß weder hart noch fleiſchig ſeyn, und ſein unterer Umriß muß
beſtimmt und auffallend rein gezeichnet, nicht ſpitz und nicht ſehr breit ſeyn. e) Die Naſenfluͤgel
(pinnae) muͤſſen von vornen beſtimmt geſehen werden, und die Loͤcher muͤſſen ſich drunter lieblich
verkuͤrzen. f) Jm Profile betrachtet, darf ſie unten nicht mehr als einen Drittel ihrer Laͤnge ha-
ben. g) Die Naſenloͤcher muͤſſen vornen etwas ſpitz, hinten runder, und uͤberhaupt ſanft geſchweift
ſeyn, und durchs Profil der Oberlippe in zwey gleiche Theile getheilt werden. h) Die Seiten der
Naſe oder des Naſengewoͤlbes muͤſſen beynahe wandartig ſeyn. i) Oben muß ſie ſich wohl an den
Bogen des Augenknochens anſchließen, und beym Auge muß ſie wenigſtens einen halben Zoll Brei-
te haben. — So eine Naſe — iſt mehr werth als ein Koͤnigreich. Es giebt aber unzaͤhlige vor-
treffliche Menſchen mit haͤßlichen Naſen. Aber ihre Vortrefflichkeit iſt wiederum ganz verſchieden
von anderer Menſchen Vortrefflichkeit. Jch habe die reinſten, verſtaͤndigſten, edelſten Geſchoͤpfe
mit
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. K k
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/297>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.