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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Vermischte Nationalgesichter.

So weit also entfernt sich Menschengestalt von Menschengestalt! Menschheit von Mensch-
heit! Sehr vermuthlich steht dieser Baschkir auf der alleruntersten Stufe, auf welcher die Men-
schengestalt zu stehen kommen kann. Man könnte also von seinem Schädel, seinem Gesichte die Um-
risse, Linien und Winkel der niedrigsten Menschheit abstrahiren. Laßt es uns bestimmt sagen: was
ist's, wodurch dieß Gesicht so tief erniedrigt, so unerträglich wird? Es ist a) die vorhängende, zur
Erde niedersinkende, unebene Stirn, die nie gegen eine Stirn gerade über stehen, nie sich dem offnen
Himmel darbieten kann. Die zum Anblicke, zur Abspiegelung des Himmels unfähige Stirn. b) Das
kleinlichthierische Auge, an dem sich kein eigentliches Augenlied bemerken läßt. c) Die wilde, große,
sich aufwärts sträubende Augenbraune. d) Die scharftiefe Nasenwurzel und die zur Stirne äußerst
disproportionirte Kleinheit der stumpfen Nase. e) Die kleinliche Oberlippe. f) Die ungeheure, em-
por sich drängende, fleischigte Unterlippe, und g) das kleinliche Kinn. Jeder einzelne dieser Züge ist
an sich schon für Dummheit und Unempfänglichkeit aller Bildung und Erleuchtung beynah entschei-
dend. Dieß Gesicht, so wie's itzt ist, scheint keiner Liebe und keines Hasses fähig, weil es keiner Ab-
straktion fähig zu seyn scheint. Zürnen kann dieß Gesicht, aber hassen nicht. Hassen setzt willkühr-
liche Reproduktion der Vorstellungen von den Unvollkommenheiten unsers Feindes voraus. Die
Liebe,
deren dieß Gesicht fähig seyn mag, ist vermuthlich bloß Nichtzorn.

Die Giorgierinn beweist die Wahrheit, daß die alten Künstler der Natur nicht vor, son-
dern nur nachgearbeitet haben. Die Form überhaupt betrachtet, ist ganz das antike Jdeal. Diese
Einfachheit, diese Sanftheit der Umrisse, diese Harmonie -- aber sobald dieß ausgesprochen
ist, muß ich beyfügen: Dieß Gesicht ist -- ohne Geist und ohne Liebe! Seine Form mag der
Liebe fähig seyn. Aber wie's hier erscheint, hat's keine Liebe! Also, also -- ist die schöne Form im
Grunde doch weiter nichts, als Gefäß, als Bühne der Liebe. Jede physisch schöne Form kann
lieben; nicht jede muß lieben. Wahre lebendige Schönheit quillt erst aus der Liebe. Daher, so
schön dieß Gesicht in Vergleichung mit dem nebenstehenden, und mit hundert andern bessern und er-
träglichern Gesichtern scheinen oder seyn mag -- Es ließe sich noch eines zeichnen, das dieß so weit
überträfe, wie dieß seinen Pendant übertrifft, überträfe vornehmlich durch Liebe. Denn wahrlich,
stark und liebreich genug, und oft genug kanns nicht gesagt werden: Jede moralisch lebendige
Kraft, jedes heitere, ruhig sich regende Wohlwollen wirkt und befördert physische Schön-

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Vermiſchte Nationalgeſichter.

So weit alſo entfernt ſich Menſchengeſtalt von Menſchengeſtalt! Menſchheit von Menſch-
heit! Sehr vermuthlich ſteht dieſer Baſchkir auf der allerunterſten Stufe, auf welcher die Men-
ſchengeſtalt zu ſtehen kommen kann. Man koͤnnte alſo von ſeinem Schaͤdel, ſeinem Geſichte die Um-
riſſe, Linien und Winkel der niedrigſten Menſchheit abſtrahiren. Laßt es uns beſtimmt ſagen: was
iſt’s, wodurch dieß Geſicht ſo tief erniedrigt, ſo unertraͤglich wird? Es iſt a) die vorhaͤngende, zur
Erde niederſinkende, unebene Stirn, die nie gegen eine Stirn gerade uͤber ſtehen, nie ſich dem offnen
Himmel darbieten kann. Die zum Anblicke, zur Abſpiegelung des Himmels unfaͤhige Stirn. b) Das
kleinlichthieriſche Auge, an dem ſich kein eigentliches Augenlied bemerken laͤßt. c) Die wilde, große,
ſich aufwaͤrts ſtraͤubende Augenbraune. d) Die ſcharftiefe Naſenwurzel und die zur Stirne aͤußerſt
disproportionirte Kleinheit der ſtumpfen Naſe. e) Die kleinliche Oberlippe. f) Die ungeheure, em-
por ſich draͤngende, fleiſchigte Unterlippe, und g) das kleinliche Kinn. Jeder einzelne dieſer Zuͤge iſt
an ſich ſchon fuͤr Dummheit und Unempfaͤnglichkeit aller Bildung und Erleuchtung beynah entſchei-
dend. Dieß Geſicht, ſo wie’s itzt iſt, ſcheint keiner Liebe und keines Haſſes faͤhig, weil es keiner Ab-
ſtraktion faͤhig zu ſeyn ſcheint. Zuͤrnen kann dieß Geſicht, aber haſſen nicht. Haſſen ſetzt willkuͤhr-
liche Reproduktion der Vorſtellungen von den Unvollkommenheiten unſers Feindes voraus. Die
Liebe,
deren dieß Geſicht faͤhig ſeyn mag, iſt vermuthlich bloß Nichtzorn.

Die Giorgierinn beweiſt die Wahrheit, daß die alten Kuͤnſtler der Natur nicht vor, ſon-
dern nur nachgearbeitet haben. Die Form uͤberhaupt betrachtet, iſt ganz das antike Jdeal. Dieſe
Einfachheit, dieſe Sanftheit der Umriſſe, dieſe Harmonie — aber ſobald dieß ausgeſprochen
iſt, muß ich beyfuͤgen: Dieß Geſicht iſt — ohne Geiſt und ohne Liebe! Seine Form mag der
Liebe faͤhig ſeyn. Aber wie’s hier erſcheint, hat’s keine Liebe! Alſo, alſo — iſt die ſchoͤne Form im
Grunde doch weiter nichts, als Gefaͤß, als Buͤhne der Liebe. Jede phyſiſch ſchoͤne Form kann
lieben; nicht jede muß lieben. Wahre lebendige Schoͤnheit quillt erſt aus der Liebe. Daher, ſo
ſchoͤn dieß Geſicht in Vergleichung mit dem nebenſtehenden, und mit hundert andern beſſern und er-
traͤglichern Geſichtern ſcheinen oder ſeyn mag — Es ließe ſich noch eines zeichnen, das dieß ſo weit
uͤbertraͤfe, wie dieß ſeinen Pendant uͤbertrifft, uͤbertraͤfe vornehmlich durch Liebe. Denn wahrlich,
ſtark und liebreich genug, und oft genug kanns nicht geſagt werden: Jede moraliſch lebendige
Kraft, jedes heitere, ruhig ſich regende Wohlwollen wirkt und befoͤrdert phyſiſche Schoͤn-

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[315/0371] Vermiſchte Nationalgeſichter. So weit alſo entfernt ſich Menſchengeſtalt von Menſchengeſtalt! Menſchheit von Menſch- heit! Sehr vermuthlich ſteht dieſer Baſchkir auf der allerunterſten Stufe, auf welcher die Men- ſchengeſtalt zu ſtehen kommen kann. Man koͤnnte alſo von ſeinem Schaͤdel, ſeinem Geſichte die Um- riſſe, Linien und Winkel der niedrigſten Menſchheit abſtrahiren. Laßt es uns beſtimmt ſagen: was iſt’s, wodurch dieß Geſicht ſo tief erniedrigt, ſo unertraͤglich wird? Es iſt a) die vorhaͤngende, zur Erde niederſinkende, unebene Stirn, die nie gegen eine Stirn gerade uͤber ſtehen, nie ſich dem offnen Himmel darbieten kann. Die zum Anblicke, zur Abſpiegelung des Himmels unfaͤhige Stirn. b) Das kleinlichthieriſche Auge, an dem ſich kein eigentliches Augenlied bemerken laͤßt. c) Die wilde, große, ſich aufwaͤrts ſtraͤubende Augenbraune. d) Die ſcharftiefe Naſenwurzel und die zur Stirne aͤußerſt disproportionirte Kleinheit der ſtumpfen Naſe. e) Die kleinliche Oberlippe. f) Die ungeheure, em- por ſich draͤngende, fleiſchigte Unterlippe, und g) das kleinliche Kinn. Jeder einzelne dieſer Zuͤge iſt an ſich ſchon fuͤr Dummheit und Unempfaͤnglichkeit aller Bildung und Erleuchtung beynah entſchei- dend. Dieß Geſicht, ſo wie’s itzt iſt, ſcheint keiner Liebe und keines Haſſes faͤhig, weil es keiner Ab- ſtraktion faͤhig zu ſeyn ſcheint. Zuͤrnen kann dieß Geſicht, aber haſſen nicht. Haſſen ſetzt willkuͤhr- liche Reproduktion der Vorſtellungen von den Unvollkommenheiten unſers Feindes voraus. Die Liebe, deren dieß Geſicht faͤhig ſeyn mag, iſt vermuthlich bloß Nichtzorn. Die Giorgierinn beweiſt die Wahrheit, daß die alten Kuͤnſtler der Natur nicht vor, ſon- dern nur nachgearbeitet haben. Die Form uͤberhaupt betrachtet, iſt ganz das antike Jdeal. Dieſe Einfachheit, dieſe Sanftheit der Umriſſe, dieſe Harmonie — aber ſobald dieß ausgeſprochen iſt, muß ich beyfuͤgen: Dieß Geſicht iſt — ohne Geiſt und ohne Liebe! Seine Form mag der Liebe faͤhig ſeyn. Aber wie’s hier erſcheint, hat’s keine Liebe! Alſo, alſo — iſt die ſchoͤne Form im Grunde doch weiter nichts, als Gefaͤß, als Buͤhne der Liebe. Jede phyſiſch ſchoͤne Form kann lieben; nicht jede muß lieben. Wahre lebendige Schoͤnheit quillt erſt aus der Liebe. Daher, ſo ſchoͤn dieß Geſicht in Vergleichung mit dem nebenſtehenden, und mit hundert andern beſſern und er- traͤglichern Geſichtern ſcheinen oder ſeyn mag — Es ließe ſich noch eines zeichnen, das dieß ſo weit uͤbertraͤfe, wie dieß ſeinen Pendant uͤbertrifft, uͤbertraͤfe vornehmlich durch Liebe. Denn wahrlich, ſtark und liebreich genug, und oft genug kanns nicht geſagt werden: Jede moraliſch lebendige Kraft, jedes heitere, ruhig ſich regende Wohlwollen wirkt und befoͤrdert phyſiſche Schoͤn- heit R r 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/371>, abgerufen am 22.11.2024.