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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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V. Abschnitt. VII. Fragment.
heit sogar in der schlechtesten Form, die noch der Liebe fähig ist -- Was der Liebe fähig
ist, ist der Verschönerung fähig.
Feste, Erde und Himmel überlebende Wahrheit: Liebe,
Liebe allein, verschönert alles, was lebt! und ohne Liebe ist keine wahre Schönheit
möglich.
Unsere Giorgierinn hat nur den Schein von Schönheit, nicht das Wesen. Sie ist
wenig mehr, als steinerne Larve. Meinem Gefühle wäre sie, woferne man sie als Schönheit an
sich, ohne Rücksicht auf unschönere Gestalten, anpreisen wollte, unausstehlich. Sie ist kalt wie
der Tod, und unempfindlich wie Holz. Unschuld, Unbosheit, Harmlosigkeit -- ich laß es gelten,
ist in diesem Gesichte. Aber die Stirn und der Uebergang zur Nase ist so sehr qui pro quo, als
möglich. Ohne alle Undulation ist ein noch so schönes Profil der Nase -- Seelenlos und unnatür-
lich. Die Natur ist ewig unversöhnliche Feindinn aller Linealgeradheit in organischen
Wesen.
Alles Uebrige des Umrisses von der Nasenspitze an bis zum Kinne ist nur unbestimmter
Schatten einer schönen Form -- und daher weder groß noch liebreizend. Jm Auge ist noch was
Großes, als nichts Jungfräuliches. Durch alles hindurch aber sieht doch jedes gesichtkennerische
Aug ein unendlich schöneres Original, das des Zeichners Hand gebunden und gelähmt zu haben
scheint. Und eben diese Lähmung scheint mir selbst in den schönsten Werken der alten Kunst, so hoch
man sie immer preisen mag, durchzuscheinen. Wer oft die schlechte Natur genau angeblickt hat,
kann sogar durch diese sein physiognomisches Gefühl für Harmonie aller Umrisse, die nach schönern
Urbildern gemacht sind, üben, und jede Degradation und Karrikatur leicht merken. Jch erwarte
noch den Zeichner, der dieses Gesicht seinem Urbilde näher bringen kann, ob er's gleich nicht sehen
wird. Der Harmonie näher, der Wahrheit und Natur näher. Jm Baschkiren ist Harmonie der
Disharmonie, wenn ich so sagen darf. Jn der Giorgierinn Disharmonie der Harmonie; oder
deutlicher und einfältiger: Das Gesicht der Giorgierinn ist sich selbst nicht so gleichartig, als das
des Baschkiren. Allein weil beyde neben einander stehen -- und Ekel und Abscheu uns überfällt
vor dem einen, so eilen wir Ruhe zu suchen beym andern, das freylich an sich schon sehr viel
Schönes hat; dessen Fehler wir aber uns selbst zu verbergen geneigt sind, weil es für den Anblick
des andern schadlos genug hält. --

Wir

V. Abſchnitt. VII. Fragment.
heit ſogar in der ſchlechteſten Form, die noch der Liebe faͤhig iſt — Was der Liebe faͤhig
iſt, iſt der Verſchoͤnerung faͤhig.
Feſte, Erde und Himmel uͤberlebende Wahrheit: Liebe,
Liebe allein, verſchoͤnert alles, was lebt! und ohne Liebe iſt keine wahre Schoͤnheit
moͤglich.
Unſere Giorgierinn hat nur den Schein von Schoͤnheit, nicht das Weſen. Sie iſt
wenig mehr, als ſteinerne Larve. Meinem Gefuͤhle waͤre ſie, woferne man ſie als Schoͤnheit an
ſich, ohne Ruͤckſicht auf unſchoͤnere Geſtalten, anpreiſen wollte, unausſtehlich. Sie iſt kalt wie
der Tod, und unempfindlich wie Holz. Unſchuld, Unbosheit, Harmloſigkeit — ich laß es gelten,
iſt in dieſem Geſichte. Aber die Stirn und der Uebergang zur Naſe iſt ſo ſehr qui pro quo, als
moͤglich. Ohne alle Undulation iſt ein noch ſo ſchoͤnes Profil der Naſe — Seelenlos und unnatuͤr-
lich. Die Natur iſt ewig unverſoͤhnliche Feindinn aller Linealgeradheit in organiſchen
Weſen.
Alles Uebrige des Umriſſes von der Naſenſpitze an bis zum Kinne iſt nur unbeſtimmter
Schatten einer ſchoͤnen Form — und daher weder groß noch liebreizend. Jm Auge iſt noch was
Großes, als nichts Jungfraͤuliches. Durch alles hindurch aber ſieht doch jedes geſichtkenneriſche
Aug ein unendlich ſchoͤneres Original, das des Zeichners Hand gebunden und gelaͤhmt zu haben
ſcheint. Und eben dieſe Laͤhmung ſcheint mir ſelbſt in den ſchoͤnſten Werken der alten Kunſt, ſo hoch
man ſie immer preiſen mag, durchzuſcheinen. Wer oft die ſchlechte Natur genau angeblickt hat,
kann ſogar durch dieſe ſein phyſiognomiſches Gefuͤhl fuͤr Harmonie aller Umriſſe, die nach ſchoͤnern
Urbildern gemacht ſind, uͤben, und jede Degradation und Karrikatur leicht merken. Jch erwarte
noch den Zeichner, der dieſes Geſicht ſeinem Urbilde naͤher bringen kann, ob er’s gleich nicht ſehen
wird. Der Harmonie naͤher, der Wahrheit und Natur naͤher. Jm Baſchkiren iſt Harmonie der
Disharmonie, wenn ich ſo ſagen darf. Jn der Giorgierinn Disharmonie der Harmonie; oder
deutlicher und einfaͤltiger: Das Geſicht der Giorgierinn iſt ſich ſelbſt nicht ſo gleichartig, als das
des Baſchkiren. Allein weil beyde neben einander ſtehen — und Ekel und Abſcheu uns uͤberfaͤllt
vor dem einen, ſo eilen wir Ruhe zu ſuchen beym andern, das freylich an ſich ſchon ſehr viel
Schoͤnes hat; deſſen Fehler wir aber uns ſelbſt zu verbergen geneigt ſind, weil es fuͤr den Anblick
des andern ſchadlos genug haͤlt. —

Wir
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[316/0372] V. Abſchnitt. VII. Fragment. heit ſogar in der ſchlechteſten Form, die noch der Liebe faͤhig iſt — Was der Liebe faͤhig iſt, iſt der Verſchoͤnerung faͤhig. Feſte, Erde und Himmel uͤberlebende Wahrheit: Liebe, Liebe allein, verſchoͤnert alles, was lebt! und ohne Liebe iſt keine wahre Schoͤnheit moͤglich. Unſere Giorgierinn hat nur den Schein von Schoͤnheit, nicht das Weſen. Sie iſt wenig mehr, als ſteinerne Larve. Meinem Gefuͤhle waͤre ſie, woferne man ſie als Schoͤnheit an ſich, ohne Ruͤckſicht auf unſchoͤnere Geſtalten, anpreiſen wollte, unausſtehlich. Sie iſt kalt wie der Tod, und unempfindlich wie Holz. Unſchuld, Unbosheit, Harmloſigkeit — ich laß es gelten, iſt in dieſem Geſichte. Aber die Stirn und der Uebergang zur Naſe iſt ſo ſehr qui pro quo, als moͤglich. Ohne alle Undulation iſt ein noch ſo ſchoͤnes Profil der Naſe — Seelenlos und unnatuͤr- lich. Die Natur iſt ewig unverſoͤhnliche Feindinn aller Linealgeradheit in organiſchen Weſen. Alles Uebrige des Umriſſes von der Naſenſpitze an bis zum Kinne iſt nur unbeſtimmter Schatten einer ſchoͤnen Form — und daher weder groß noch liebreizend. Jm Auge iſt noch was Großes, als nichts Jungfraͤuliches. Durch alles hindurch aber ſieht doch jedes geſichtkenneriſche Aug ein unendlich ſchoͤneres Original, das des Zeichners Hand gebunden und gelaͤhmt zu haben ſcheint. Und eben dieſe Laͤhmung ſcheint mir ſelbſt in den ſchoͤnſten Werken der alten Kunſt, ſo hoch man ſie immer preiſen mag, durchzuſcheinen. Wer oft die ſchlechte Natur genau angeblickt hat, kann ſogar durch dieſe ſein phyſiognomiſches Gefuͤhl fuͤr Harmonie aller Umriſſe, die nach ſchoͤnern Urbildern gemacht ſind, uͤben, und jede Degradation und Karrikatur leicht merken. Jch erwarte noch den Zeichner, der dieſes Geſicht ſeinem Urbilde naͤher bringen kann, ob er’s gleich nicht ſehen wird. Der Harmonie naͤher, der Wahrheit und Natur naͤher. Jm Baſchkiren iſt Harmonie der Disharmonie, wenn ich ſo ſagen darf. Jn der Giorgierinn Disharmonie der Harmonie; oder deutlicher und einfaͤltiger: Das Geſicht der Giorgierinn iſt ſich ſelbſt nicht ſo gleichartig, als das des Baſchkiren. Allein weil beyde neben einander ſtehen — und Ekel und Abſcheu uns uͤberfaͤllt vor dem einen, ſo eilen wir Ruhe zu ſuchen beym andern, das freylich an ſich ſchon ſehr viel Schoͤnes hat; deſſen Fehler wir aber uns ſelbſt zu verbergen geneigt ſind, weil es fuͤr den Anblick des andern ſchadlos genug haͤlt. — Wir

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/372>, abgerufen am 22.11.2024.