Jedes Land, jede Provinz, jede Stadt, jedes Dorf hat seine besondre Physiognomie und seinen besondern Charakter, und einen Charakter, der dieser Physiognomie offenbar angemessen ist. Man zeichne sich zum Exempel ein oder zwey Dutzend Baurengesichter aus einigen Dörfern, welche man will, und vergleiche! Ein oder zwey Dutzend aus einigen Städten auf Ein Blatt, und vergleiche -- So schwer sich das Gemeinschaftliche in Worten ausdrücken und bestimmen läßt, so leicht läßt es sich wahrnehmen. Der Charakter einer Gesellschaft überhaupt ist nie schwer zu finden. Aber schwer allemal das Besondre, wodurch sich ein solcher genau und zeichnungsmäßig bestimmen läßt. Das Ueberhäuptliche läßt sich vielleicht durchs Anschauen des Ganzen, in sofern es nicht zu groß und mannichfaltig ist -- und durch Vergleichung desselben mit benachbarten und entfernten Ganzen finden. Das Besondre hingegen, oder das Charakteristische, sofern es deutlich, an- geblich, lehrbar werden soll, läßt sich, meines Bedünkens, wie schon oben bemerkt, eher aus der Betrachtung von einzelnen Personen finden; durch Nebeneinanderstellung einzelner Gesichter. So verschieden immer die schönsten und schlechtesten Gesichter einer Stadt, oder eines Dorfes seyn mö- gen -- die schönsten haben dennoch immer etwas lokales mit den schlechtesten, diese mit den schön- sten gemein. Es braucht aber feine Sinnen und viele Uebung, dieses Gemeinsame leicht herauszu- finden. Die Gesichtsform, der Charakter des Profils, vornehmlich aber der Mund und die Zähne, scheinen mir bis itzt die zu diesem Zwecke noch am leichtesten prüfbaren und vergleichbaren Dinge.
Jch wag' es aber noch nicht, hierüber sogleich auf vorgelegte Zeichnungen hin, mit einiger Zuversicht zu urtheilen, theils weil in den Zeichnungen sehr leicht dieß Gemeinsame verfehlt worden seyn kann; theils aus Mangel genugsamer Beobachtung. Nichts anders also, als sehr unreife Versuche kann ich vorlegen; mehr um andre urtheilen zu lassen, als selbst zu urtheilen.
Beylage
Phys. Fragm.IVVersuch. S s
Achtes Fragment. Stadt- und Ortphyſiognomien.
Jedes Land, jede Provinz, jede Stadt, jedes Dorf hat ſeine beſondre Phyſiognomie und ſeinen beſondern Charakter, und einen Charakter, der dieſer Phyſiognomie offenbar angemeſſen iſt. Man zeichne ſich zum Exempel ein oder zwey Dutzend Baurengeſichter aus einigen Doͤrfern, welche man will, und vergleiche! Ein oder zwey Dutzend aus einigen Staͤdten auf Ein Blatt, und vergleiche — So ſchwer ſich das Gemeinſchaftliche in Worten ausdruͤcken und beſtimmen laͤßt, ſo leicht laͤßt es ſich wahrnehmen. Der Charakter einer Geſellſchaft uͤberhaupt iſt nie ſchwer zu finden. Aber ſchwer allemal das Beſondre, wodurch ſich ein ſolcher genau und zeichnungsmaͤßig beſtimmen laͤßt. Das Ueberhaͤuptliche laͤßt ſich vielleicht durchs Anſchauen des Ganzen, in ſofern es nicht zu groß und mannichfaltig iſt — und durch Vergleichung deſſelben mit benachbarten und entfernten Ganzen finden. Das Beſondre hingegen, oder das Charakteriſtiſche, ſofern es deutlich, an- geblich, lehrbar werden ſoll, laͤßt ſich, meines Beduͤnkens, wie ſchon oben bemerkt, eher aus der Betrachtung von einzelnen Perſonen finden; durch Nebeneinanderſtellung einzelner Geſichter. So verſchieden immer die ſchoͤnſten und ſchlechteſten Geſichter einer Stadt, oder eines Dorfes ſeyn moͤ- gen — die ſchoͤnſten haben dennoch immer etwas lokales mit den ſchlechteſten, dieſe mit den ſchoͤn- ſten gemein. Es braucht aber feine Sinnen und viele Uebung, dieſes Gemeinſame leicht herauszu- finden. Die Geſichtsform, der Charakter des Profils, vornehmlich aber der Mund und die Zaͤhne, ſcheinen mir bis itzt die zu dieſem Zwecke noch am leichteſten pruͤfbaren und vergleichbaren Dinge.
Jch wag’ es aber noch nicht, hieruͤber ſogleich auf vorgelegte Zeichnungen hin, mit einiger Zuverſicht zu urtheilen, theils weil in den Zeichnungen ſehr leicht dieß Gemeinſame verfehlt worden ſeyn kann; theils aus Mangel genugſamer Beobachtung. Nichts anders alſo, als ſehr unreife Verſuche kann ich vorlegen; mehr um andre urtheilen zu laſſen, als ſelbſt zu urtheilen.
Beylage
Phyſ. Fragm.IVVerſuch. S s
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Achtes Fragment.
Stadt- und Ortphyſiognomien.
Jedes Land, jede Provinz, jede Stadt, jedes Dorf hat ſeine beſondre Phyſiognomie und ſeinen
beſondern Charakter, und einen Charakter, der dieſer Phyſiognomie offenbar angemeſſen iſt. Man
zeichne ſich zum Exempel ein oder zwey Dutzend Baurengeſichter aus einigen Doͤrfern, welche man
will, und vergleiche! Ein oder zwey Dutzend aus einigen Staͤdten auf Ein Blatt, und vergleiche —
So ſchwer ſich das Gemeinſchaftliche in Worten ausdruͤcken und beſtimmen laͤßt, ſo leicht laͤßt es
ſich wahrnehmen. Der Charakter einer Geſellſchaft uͤberhaupt iſt nie ſchwer zu finden. Aber
ſchwer allemal das Beſondre, wodurch ſich ein ſolcher genau und zeichnungsmaͤßig beſtimmen
laͤßt. Das Ueberhaͤuptliche laͤßt ſich vielleicht durchs Anſchauen des Ganzen, in ſofern es nicht
zu groß und mannichfaltig iſt — und durch Vergleichung deſſelben mit benachbarten und entfernten
Ganzen finden. Das Beſondre hingegen, oder das Charakteriſtiſche, ſofern es deutlich, an-
geblich, lehrbar werden ſoll, laͤßt ſich, meines Beduͤnkens, wie ſchon oben bemerkt, eher aus der
Betrachtung von einzelnen Perſonen finden; durch Nebeneinanderſtellung einzelner Geſichter. So
verſchieden immer die ſchoͤnſten und ſchlechteſten Geſichter einer Stadt, oder eines Dorfes ſeyn moͤ-
gen — die ſchoͤnſten haben dennoch immer etwas lokales mit den ſchlechteſten, dieſe mit den ſchoͤn-
ſten gemein. Es braucht aber feine Sinnen und viele Uebung, dieſes Gemeinſame leicht herauszu-
finden. Die Geſichtsform, der Charakter des Profils, vornehmlich aber der Mund und die
Zaͤhne, ſcheinen mir bis itzt die zu dieſem Zwecke noch am leichteſten pruͤfbaren und vergleichbaren
Dinge.
Jch wag’ es aber noch nicht, hieruͤber ſogleich auf vorgelegte Zeichnungen hin, mit einiger
Zuverſicht zu urtheilen, theils weil in den Zeichnungen ſehr leicht dieß Gemeinſame verfehlt worden
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Verſuche kann ich vorlegen; mehr um andre urtheilen zu laſſen, als ſelbſt zu urtheilen.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/377>, abgerufen am 22.11.2024.
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