Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
V. Abschnitt. VIII. Fragment.
Beylage A. Zehn Gränzumrisse männlicher Gesichter.
[Abbildung]

Nicht sehr reine, aber dennoch sehr charakteristische Umrisse von zehn Einwohnern Einer,
ihr seht's, ohne mein Erinnern, nicht französischen, nicht italiänischen, nicht engländischen -- nein,
einer deutschen Stadt. Die Hauptformen können, so viel im Einzelnen fehlen mag, und gewiß
fehlt, wohl nicht anders, als wahr seyn. Sollt' es nun bloßer Zufall seyn, daß unter diesen zehn theils
unausgesuchten, theils unter sich so sehr verschiedenen Profilen dennoch so viel scharfeckigte, scharf-
redende Züge sind? Alles so bezeichnete Physiognomien? Bezeichnet vornehmlich durch den Umriß
der Stirn und die Uebergänge zur Nase? -- Sollte sich nicht von diesen unausgesuchten zehen auf
den Hauptcharakter von tausend Einwohnern dieser Stadt einigermaßen schließen lassen? Und,
was schließen lassen? -- Gewiß nicht, was manche, der Physiognomik unkundige, voreilig schließen
werden! -- Kein Mensch, das kann ich nicht genug sagen, hat sich seines natürlichen Gesichtes zu schä-
men -- Vors erste -- er gab es sich nicht. Vors zweyte: Es ist im unschönsten viel treffliche An-
lage. Drittens: Es giebt Charakterzüge, die stark und nicht schön, aber mehr werth sind, als schöne
ohne Kraft. Gewisse Formen z. E. nehmen sehr späte Feinheit des Geschmacks auf -- aber sie haben
dafür eine Tiefe des Blickes, eine Kraft festzuhalten, Treue und Fleiß, etwas ordentlich zu behan-
deln, wodurch der andre Mangel vollkommen ersetzt werden kann, und vieles von diesen Eigenschaften
glaube ich in den meisten dieser Profile zu entdecken. Uebrigens gesteh' ich, daß ich den Charakter
dieser meistens sonderbaren Stirnformen zu wissen wünschte. Denn Wissen des Gewissen allein
giebt den Grund zum Vermuthen des Ungewissen, und nur der Thor verlacht den, der nicht
weiß,
was er ohne Erfahrung und Beobachtung nicht wissen kann und will.

8)
B. Eine
8) Jst ein polnisches Gesicht, und ein Reisender versichert mich, daß diese Form der untern Hälfte des Ge-
sichts überhaupt für das Nationale sehr charakteristisch sey.
V. Abſchnitt. VIII. Fragment.
Beylage A. Zehn Graͤnzumriſſe maͤnnlicher Geſichter.
[Abbildung]

Nicht ſehr reine, aber dennoch ſehr charakteriſtiſche Umriſſe von zehn Einwohnern Einer,
ihr ſeht’s, ohne mein Erinnern, nicht franzoͤſiſchen, nicht italiaͤniſchen, nicht englaͤndiſchen — nein,
einer deutſchen Stadt. Die Hauptformen koͤnnen, ſo viel im Einzelnen fehlen mag, und gewiß
fehlt, wohl nicht anders, als wahr ſeyn. Sollt’ es nun bloßer Zufall ſeyn, daß unter dieſen zehn theils
unausgeſuchten, theils unter ſich ſo ſehr verſchiedenen Profilen dennoch ſo viel ſcharfeckigte, ſcharf-
redende Zuͤge ſind? Alles ſo bezeichnete Phyſiognomien? Bezeichnet vornehmlich durch den Umriß
der Stirn und die Uebergaͤnge zur Naſe? — Sollte ſich nicht von dieſen unausgeſuchten zehen auf
den Hauptcharakter von tauſend Einwohnern dieſer Stadt einigermaßen ſchließen laſſen? Und,
was ſchließen laſſen? — Gewiß nicht, was manche, der Phyſiognomik unkundige, voreilig ſchließen
werden! — Kein Menſch, das kann ich nicht genug ſagen, hat ſich ſeines natuͤrlichen Geſichtes zu ſchaͤ-
men — Vors erſte — er gab es ſich nicht. Vors zweyte: Es iſt im unſchoͤnſten viel treffliche An-
lage. Drittens: Es giebt Charakterzuͤge, die ſtark und nicht ſchoͤn, aber mehr werth ſind, als ſchoͤne
ohne Kraft. Gewiſſe Formen z. E. nehmen ſehr ſpaͤte Feinheit des Geſchmacks auf — aber ſie haben
dafuͤr eine Tiefe des Blickes, eine Kraft feſtzuhalten, Treue und Fleiß, etwas ordentlich zu behan-
deln, wodurch der andre Mangel vollkommen erſetzt werden kann, und vieles von dieſen Eigenſchaften
glaube ich in den meiſten dieſer Profile zu entdecken. Uebrigens geſteh’ ich, daß ich den Charakter
dieſer meiſtens ſonderbaren Stirnformen zu wiſſen wuͤnſchte. Denn Wiſſen des Gewiſſen allein
giebt den Grund zum Vermuthen des Ungewiſſen, und nur der Thor verlacht den, der nicht
weiß,
was er ohne Erfahrung und Beobachtung nicht wiſſen kann und will.

8)
B. Eine
8) Jſt ein polniſches Geſicht, und ein Reiſender verſichert mich, daß dieſe Form der untern Haͤlfte des Ge-
ſichts uͤberhaupt fuͤr das Nationale ſehr charakteriſtiſch ſey.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0378" n="322"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">V.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">VIII.</hi> Fragment.</hi> </fw><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">Beylage <hi rendition="#aq">A.</hi> Zehn Gra&#x0364;nzumri&#x017F;&#x017F;e ma&#x0364;nnlicher Ge&#x017F;ichter.</hi> </head><lb/>
              <figure/>
              <p>Nicht &#x017F;ehr reine, aber dennoch &#x017F;ehr charakteri&#x017F;ti&#x017F;che Umri&#x017F;&#x017F;e von zehn Einwohnern Einer,<lb/>
ihr &#x017F;eht&#x2019;s, ohne mein Erinnern, nicht franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen, nicht italia&#x0364;ni&#x017F;chen, nicht engla&#x0364;ndi&#x017F;chen &#x2014; nein,<lb/>
einer <hi rendition="#fr">deut&#x017F;chen</hi> Stadt. Die Hauptformen ko&#x0364;nnen, &#x017F;o viel im <hi rendition="#fr">Einzelnen</hi> fehlen mag, und gewiß<lb/>
fehlt, wohl nicht anders, als wahr &#x017F;eyn. Sollt&#x2019; es nun bloßer Zufall &#x017F;eyn, daß unter die&#x017F;en zehn theils<lb/><hi rendition="#fr">unausge&#x017F;uchten,</hi> theils unter &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;ehr <hi rendition="#fr">ver&#x017F;chiedenen</hi> Profilen dennoch &#x017F;o viel &#x017F;charfeckigte, &#x017F;charf-<lb/>
redende Zu&#x0364;ge &#x017F;ind? Alles &#x017F;o bezeichnete Phy&#x017F;iognomien? Bezeichnet vornehmlich durch den Umriß<lb/>
der Stirn und die Ueberga&#x0364;nge zur Na&#x017F;e? &#x2014; Sollte &#x017F;ich nicht von die&#x017F;en unausge&#x017F;uchten zehen auf<lb/>
den <hi rendition="#fr">Hauptcharakter</hi> von tau&#x017F;end Einwohnern die&#x017F;er Stadt einigermaßen &#x017F;chließen la&#x017F;&#x017F;en? Und,<lb/>
was &#x017F;chließen la&#x017F;&#x017F;en? &#x2014; Gewiß nicht, was manche, der Phy&#x017F;iognomik unkundige, voreilig &#x017F;chließen<lb/>
werden! &#x2014; Kein Men&#x017F;ch, das kann ich nicht genug &#x017F;agen, hat &#x017F;ich &#x017F;eines natu&#x0364;rlichen Ge&#x017F;ichtes zu &#x017F;cha&#x0364;-<lb/>
men &#x2014; Vors <hi rendition="#fr">er&#x017F;te</hi> &#x2014; er gab es &#x017F;ich nicht. Vors <hi rendition="#fr">zweyte:</hi> Es i&#x017F;t im un&#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten viel treffliche An-<lb/>
lage. <hi rendition="#fr">Drittens:</hi> Es giebt Charakterzu&#x0364;ge, die &#x017F;tark und nicht &#x017F;cho&#x0364;n, aber mehr werth &#x017F;ind, als &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
ohne Kraft. Gewi&#x017F;&#x017F;e Formen z. E. nehmen &#x017F;ehr &#x017F;pa&#x0364;te Feinheit des Ge&#x017F;chmacks auf &#x2014; aber &#x017F;ie haben<lb/>
dafu&#x0364;r eine Tiefe des Blickes, eine Kraft fe&#x017F;tzuhalten, Treue und Fleiß, etwas ordentlich zu behan-<lb/>
deln, wodurch der andre Mangel vollkommen er&#x017F;etzt werden kann, und vieles von die&#x017F;en Eigen&#x017F;chaften<lb/>
glaube ich in den mei&#x017F;ten die&#x017F;er Profile zu entdecken. Uebrigens ge&#x017F;teh&#x2019; ich, daß ich den Charakter<lb/>
die&#x017F;er mei&#x017F;tens &#x017F;onderbaren Stirnformen zu wi&#x017F;&#x017F;en wu&#x0364;n&#x017F;chte. Denn <hi rendition="#fr">Wi&#x017F;&#x017F;en</hi> des <hi rendition="#fr">Gewi&#x017F;&#x017F;en</hi> allein<lb/>
giebt den Grund zum <hi rendition="#fr">Vermuthen</hi> des <hi rendition="#fr">Ungewi&#x017F;&#x017F;en,</hi> und nur der Thor verlacht den, der <hi rendition="#fr">nicht<lb/>
weiß,</hi> was er ohne Erfahrung und Beobachtung <hi rendition="#fr">nicht wi&#x017F;&#x017F;en kann und will.</hi></p><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">B.</hi> Eine</hi> </fw><lb/>
              <note place="foot" n="8)">J&#x017F;t ein polni&#x017F;ches Ge&#x017F;icht, und ein Rei&#x017F;ender ver&#x017F;ichert mich, daß die&#x017F;e Form der untern Ha&#x0364;lfte des Ge-<lb/>
&#x017F;ichts u&#x0364;berhaupt fu&#x0364;r das Nationale &#x017F;ehr charakteri&#x017F;ti&#x017F;ch &#x017F;ey.</note><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0378] V. Abſchnitt. VIII. Fragment. Beylage A. Zehn Graͤnzumriſſe maͤnnlicher Geſichter. [Abbildung] Nicht ſehr reine, aber dennoch ſehr charakteriſtiſche Umriſſe von zehn Einwohnern Einer, ihr ſeht’s, ohne mein Erinnern, nicht franzoͤſiſchen, nicht italiaͤniſchen, nicht englaͤndiſchen — nein, einer deutſchen Stadt. Die Hauptformen koͤnnen, ſo viel im Einzelnen fehlen mag, und gewiß fehlt, wohl nicht anders, als wahr ſeyn. Sollt’ es nun bloßer Zufall ſeyn, daß unter dieſen zehn theils unausgeſuchten, theils unter ſich ſo ſehr verſchiedenen Profilen dennoch ſo viel ſcharfeckigte, ſcharf- redende Zuͤge ſind? Alles ſo bezeichnete Phyſiognomien? Bezeichnet vornehmlich durch den Umriß der Stirn und die Uebergaͤnge zur Naſe? — Sollte ſich nicht von dieſen unausgeſuchten zehen auf den Hauptcharakter von tauſend Einwohnern dieſer Stadt einigermaßen ſchließen laſſen? Und, was ſchließen laſſen? — Gewiß nicht, was manche, der Phyſiognomik unkundige, voreilig ſchließen werden! — Kein Menſch, das kann ich nicht genug ſagen, hat ſich ſeines natuͤrlichen Geſichtes zu ſchaͤ- men — Vors erſte — er gab es ſich nicht. Vors zweyte: Es iſt im unſchoͤnſten viel treffliche An- lage. Drittens: Es giebt Charakterzuͤge, die ſtark und nicht ſchoͤn, aber mehr werth ſind, als ſchoͤne ohne Kraft. Gewiſſe Formen z. E. nehmen ſehr ſpaͤte Feinheit des Geſchmacks auf — aber ſie haben dafuͤr eine Tiefe des Blickes, eine Kraft feſtzuhalten, Treue und Fleiß, etwas ordentlich zu behan- deln, wodurch der andre Mangel vollkommen erſetzt werden kann, und vieles von dieſen Eigenſchaften glaube ich in den meiſten dieſer Profile zu entdecken. Uebrigens geſteh’ ich, daß ich den Charakter dieſer meiſtens ſonderbaren Stirnformen zu wiſſen wuͤnſchte. Denn Wiſſen des Gewiſſen allein giebt den Grund zum Vermuthen des Ungewiſſen, und nur der Thor verlacht den, der nicht weiß, was er ohne Erfahrung und Beobachtung nicht wiſſen kann und will. B. Eine 8) 8) Jſt ein polniſches Geſicht, und ein Reiſender verſichert mich, daß dieſe Form der untern Haͤlfte des Ge- ſichts uͤberhaupt fuͤr das Nationale ſehr charakteriſtiſch ſey.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/378
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/378>, abgerufen am 22.11.2024.