Je mehr die eigentliche Liebe in der Brust der Aeltern lebt, je mehr reine, treue, sanfte Herzlichkeit, je mehr wechselseitige Liebe des Vaters und der Mutter ungezwungen und natürlich zusammenfließen, welche wechselseitige Liebe und Theilnehmung schon wieder einen gewissen Grad von Einbildungskraft und Gestaltempfänglichkeit voraussetzt; desto mehr werden die Gesichtsbildun- gen der Kinder aus den Gesichtszügen der Aeltern zusammengesetzt scheinen.
Unter allen Temperamenten erbt sich keines so leicht fort, als das sanguinische -- und mit demselben der Leichtsinn. Wo einmal sich der Leichtsinn in eine Familie hineingepflanzt hat, da braucht es viel Arbeit und Leiden, viel Fasten und Beten, bis er wieder weg ist.
Das melancholische Temperament des Vaters erbt sich leicht fort durch die natürliche Besorgniß der Mutter, daß es sich forterben werde; wohl verstanden, erbt sich nur dann leicht fort, wenn in einem entscheidenden Momente die Mutter von entscheidender Furcht plötzlich befallen wird; -- erbt sich weniger leicht fort, wenn die Furcht mehr anhaltend und überlegt ist. So wie diejenigen Mütter, die sich am meisten, und beynahe die ganze Zeit ihrer Schwangerschaft vor Mut- termählern und Mißgestalt ihrer Leibesfrucht fürchten, weil sie sich erinnern, gewisse Abscheu er- weckende Dinge gesehen zu haben, größtentheils die wohlgestaltetsten und von allen Mählern freyen Kinder zur Welt bringen; denn ihre Furcht war, obgleich wahrhaft, dennoch nur Faktize, sie war nicht die Blitzwirkung der plötzlich da stehenden, Abschen erweckenden Gestalt.
Wenn das cholerische Temperament durch beyde Aeltern sich einmal in eine Familie heftig hineingearbeitet hat, so kanns vielleicht Jahrhunderte währen, ehe es sich wieder temperirt. Phleg- ma erbt sich nicht so leicht fort, selbst wenn Vater und Mutter phlegmatisch sind, denn es giebt ge- wisse Lebensmomente, wo der Phlegmatische mit ganzer Kraft und Seele wirkt, eben weil er sehr selten so wirkt; und diese Momente können und müssen wirken. Nichts aber scheint sich so leicht fortzuerben, als Geschäfftigkeit und Fleiß, woferne diese in der Organisation, und dem Bedürf- nisse, Veränderungen zu bewirken, ihren Grund haben -- Es dauert lange, bis von einem fleißigen und geschäfftigen Ehepaar, dem nicht nur Nahrung, sondern Geschäfftigkeit an sich Bedürfniß ist, kein emsiger Descendent mehr übrig ist, zumal da die emsigsten Mütter zugleich die fruchtbarsten sind.
Zehntes
V. Abſchnitt. IX. Fragment.
Je mehr die eigentliche Liebe in der Bruſt der Aeltern lebt, je mehr reine, treue, ſanfte Herzlichkeit, je mehr wechſelſeitige Liebe des Vaters und der Mutter ungezwungen und natuͤrlich zuſammenfließen, welche wechſelſeitige Liebe und Theilnehmung ſchon wieder einen gewiſſen Grad von Einbildungskraft und Geſtaltempfaͤnglichkeit vorausſetzt; deſto mehr werden die Geſichtsbildun- gen der Kinder aus den Geſichtszuͤgen der Aeltern zuſammengeſetzt ſcheinen.
Unter allen Temperamenten erbt ſich keines ſo leicht fort, als das ſanguiniſche — und mit demſelben der Leichtſinn. Wo einmal ſich der Leichtſinn in eine Familie hineingepflanzt hat, da braucht es viel Arbeit und Leiden, viel Faſten und Beten, bis er wieder weg iſt.
Das melancholiſche Temperament des Vaters erbt ſich leicht fort durch die natuͤrliche Beſorgniß der Mutter, daß es ſich forterben werde; wohl verſtanden, erbt ſich nur dann leicht fort, wenn in einem entſcheidenden Momente die Mutter von entſcheidender Furcht ploͤtzlich befallen wird; — erbt ſich weniger leicht fort, wenn die Furcht mehr anhaltend und uͤberlegt iſt. So wie diejenigen Muͤtter, die ſich am meiſten, und beynahe die ganze Zeit ihrer Schwangerſchaft vor Mut- termaͤhlern und Mißgeſtalt ihrer Leibesfrucht fuͤrchten, weil ſie ſich erinnern, gewiſſe Abſcheu er- weckende Dinge geſehen zu haben, groͤßtentheils die wohlgeſtaltetſten und von allen Maͤhlern freyen Kinder zur Welt bringen; denn ihre Furcht war, obgleich wahrhaft, dennoch nur Faktize, ſie war nicht die Blitzwirkung der ploͤtzlich da ſtehenden, Abſchen erweckenden Geſtalt.
Wenn das choleriſche Temperament durch beyde Aeltern ſich einmal in eine Familie heftig hineingearbeitet hat, ſo kanns vielleicht Jahrhunderte waͤhren, ehe es ſich wieder temperirt. Phleg- ma erbt ſich nicht ſo leicht fort, ſelbſt wenn Vater und Mutter phlegmatiſch ſind, denn es giebt ge- wiſſe Lebensmomente, wo der Phlegmatiſche mit ganzer Kraft und Seele wirkt, eben weil er ſehr ſelten ſo wirkt; und dieſe Momente koͤnnen und muͤſſen wirken. Nichts aber ſcheint ſich ſo leicht fortzuerben, als Geſchaͤfftigkeit und Fleiß, woferne dieſe in der Organiſation, und dem Beduͤrf- niſſe, Veraͤnderungen zu bewirken, ihren Grund haben — Es dauert lange, bis von einem fleißigen und geſchaͤfftigen Ehepaar, dem nicht nur Nahrung, ſondern Geſchaͤfftigkeit an ſich Beduͤrfniß iſt, kein emſiger Deſcendent mehr uͤbrig iſt, zumal da die emſigſten Muͤtter zugleich die fruchtbarſten ſind.
Zehntes
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V. Abſchnitt. IX. Fragment.
Je mehr die eigentliche Liebe in der Bruſt der Aeltern lebt, je mehr reine, treue, ſanfte
Herzlichkeit, je mehr wechſelſeitige Liebe des Vaters und der Mutter ungezwungen und natuͤrlich
zuſammenfließen, welche wechſelſeitige Liebe und Theilnehmung ſchon wieder einen gewiſſen Grad
von Einbildungskraft und Geſtaltempfaͤnglichkeit vorausſetzt; deſto mehr werden die Geſichtsbildun-
gen der Kinder aus den Geſichtszuͤgen der Aeltern zuſammengeſetzt ſcheinen.
Unter allen Temperamenten erbt ſich keines ſo leicht fort, als das ſanguiniſche — und mit
demſelben der Leichtſinn. Wo einmal ſich der Leichtſinn in eine Familie hineingepflanzt hat, da
braucht es viel Arbeit und Leiden, viel Faſten und Beten, bis er wieder weg iſt.
Das melancholiſche Temperament des Vaters erbt ſich leicht fort durch die natuͤrliche
Beſorgniß der Mutter, daß es ſich forterben werde; wohl verſtanden, erbt ſich nur dann leicht fort,
wenn in einem entſcheidenden Momente die Mutter von entſcheidender Furcht ploͤtzlich befallen
wird; — erbt ſich weniger leicht fort, wenn die Furcht mehr anhaltend und uͤberlegt iſt. So wie
diejenigen Muͤtter, die ſich am meiſten, und beynahe die ganze Zeit ihrer Schwangerſchaft vor Mut-
termaͤhlern und Mißgeſtalt ihrer Leibesfrucht fuͤrchten, weil ſie ſich erinnern, gewiſſe Abſcheu er-
weckende Dinge geſehen zu haben, groͤßtentheils die wohlgeſtaltetſten und von allen Maͤhlern freyen
Kinder zur Welt bringen; denn ihre Furcht war, obgleich wahrhaft, dennoch nur Faktize, ſie
war nicht die Blitzwirkung der ploͤtzlich da ſtehenden, Abſchen erweckenden Geſtalt.
Wenn das choleriſche Temperament durch beyde Aeltern ſich einmal in eine Familie heftig
hineingearbeitet hat, ſo kanns vielleicht Jahrhunderte waͤhren, ehe es ſich wieder temperirt. Phleg-
ma erbt ſich nicht ſo leicht fort, ſelbſt wenn Vater und Mutter phlegmatiſch ſind, denn es giebt ge-
wiſſe Lebensmomente, wo der Phlegmatiſche mit ganzer Kraft und Seele wirkt, eben weil er ſehr
ſelten ſo wirkt; und dieſe Momente koͤnnen und muͤſſen wirken. Nichts aber ſcheint ſich ſo leicht
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niſſe, Veraͤnderungen zu bewirken, ihren Grund haben — Es dauert lange, bis von einem fleißigen und
geſchaͤfftigen Ehepaar, dem nicht nur Nahrung, ſondern Geſchaͤfftigkeit an ſich Beduͤrfniß iſt,
kein emſiger Deſcendent mehr uͤbrig iſt, zumal da die emſigſten Muͤtter zugleich die fruchtbarſten
ſind.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/390>, abgerufen am 22.11.2024.
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