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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Erstes Fragment.
Etwas von den Temperamenten.

Man erwartet vermuthlich in diesem Werke eine ausführliche Abhandlung und eine genaue Cha-
rakteristik von den Temperamenten, und man irrt sich. Was sich darüber sagen läßt, haben
Haller und Zimmermann, Kämpf und Oberreit, und eine Menge Vor- und Nachschreiber --
von Aristoteles bis auf Huart, von Huart auf Böhme, von Böhme bis auf Lawätz --
gut und schlecht, mit und ohne Witz gesagt -- daß mir nichts zu sagen übrig scheint. Studiert
habe ich diese Schriftsteller nicht, das heißt, sie nicht erst selbst durchaus zu verstehen gesucht; jegli-
chen erst mit sich selbst, dann alle unter sich -- dann mit der Natur und mannichfaltigen einzelnen
Jndividuen sie verglichen. So viel aber glaubte ich doch aus allem, was ich darüber las, schlies-
sen zu dürfen -- daß dieß Feld, so bearbeitet es scheinen mag, einer ganz neuen Umarbeitung äus-
serst bedarf. Jch selbst habe zu wenig physiologische Kenntniß, zu wenig Muße, und am wenig-
sten Sinn für diese physiologisch chymische Untersuchung, als daß man etwas ausgearbeitetes, durch-
gedachtes von mir erwarten dürfte.

So wenig ich indessen zu leisten versprechen kann, wage ich es dennoch, nicht ohne Hoff-
nung, zu neuer Beleuchtung dieses so wichtigen Theiles der Menschenkenntniß, einige Winke oder
Veranlassungen geben zu können.



Man pflegt oft die vier gewöhnlichen Temperamente zu charakterisiren, und sodann diesen
Charakter auf irgend Ein Jndividuum ganz anzuwenden. *) Dadurch veranlaßt man ein anderes
Extrem, das der menschlichen Vernunft zur größten Schande gereicht -- Läugnung der Tem-
peramentsverschiedenheiten.
Jch finde in den Schriften über die Temperamentslehre ge-
rade den schändlichen Unsinn, wie in einigen berühmten französischen Schriften über Zeugung und
Organifation, die ein unaustilgbarer Schandfleck nicht für die Religiosität ihrer Verfasser, will
ich sagen, sondern für die Philosophie des Landes und des Jahrhunderts sind.

Daß
*) Wer wird Choleriker, Sanguiniker, wer Phleg-
matiker
oder Melancholiker seyn wollen, wenn er al-
[Spaltenumbruch] les das seyn soll, was der Witz eines Schriftstellers
ihn seyn heißt?
Erſtes Fragment.
Etwas von den Temperamenten.

Man erwartet vermuthlich in dieſem Werke eine ausfuͤhrliche Abhandlung und eine genaue Cha-
rakteriſtik von den Temperamenten, und man irrt ſich. Was ſich daruͤber ſagen laͤßt, haben
Haller und Zimmermann, Kaͤmpf und Oberreit, und eine Menge Vor- und Nachſchreiber —
von Ariſtoteles bis auf Huart, von Huart auf Boͤhme, von Boͤhme bis auf Lawaͤtz
gut und ſchlecht, mit und ohne Witz geſagt — daß mir nichts zu ſagen uͤbrig ſcheint. Studiert
habe ich dieſe Schriftſteller nicht, das heißt, ſie nicht erſt ſelbſt durchaus zu verſtehen geſucht; jegli-
chen erſt mit ſich ſelbſt, dann alle unter ſich — dann mit der Natur und mannichfaltigen einzelnen
Jndividuen ſie verglichen. So viel aber glaubte ich doch aus allem, was ich daruͤber las, ſchlieſ-
ſen zu duͤrfen — daß dieß Feld, ſo bearbeitet es ſcheinen mag, einer ganz neuen Umarbeitung aͤuſ-
ſerſt bedarf. Jch ſelbſt habe zu wenig phyſiologiſche Kenntniß, zu wenig Muße, und am wenig-
ſten Sinn fuͤr dieſe phyſiologiſch chymiſche Unterſuchung, als daß man etwas ausgearbeitetes, durch-
gedachtes von mir erwarten duͤrfte.

So wenig ich indeſſen zu leiſten verſprechen kann, wage ich es dennoch, nicht ohne Hoff-
nung, zu neuer Beleuchtung dieſes ſo wichtigen Theiles der Menſchenkenntniß, einige Winke oder
Veranlaſſungen geben zu koͤnnen.



Man pflegt oft die vier gewoͤhnlichen Temperamente zu charakteriſiren, und ſodann dieſen
Charakter auf irgend Ein Jndividuum ganz anzuwenden. *) Dadurch veranlaßt man ein anderes
Extrem, das der menſchlichen Vernunft zur groͤßten Schande gereicht — Laͤugnung der Tem-
peramentsverſchiedenheiten.
Jch finde in den Schriften uͤber die Temperamentslehre ge-
rade den ſchaͤndlichen Unſinn, wie in einigen beruͤhmten franzoͤſiſchen Schriften uͤber Zeugung und
Organifation, die ein unaustilgbarer Schandfleck nicht fuͤr die Religioſitaͤt ihrer Verfaſſer, will
ich ſagen, ſondern fuͤr die Philoſophie des Landes und des Jahrhunderts ſind.

Daß
*) Wer wird Choleriker, Sanguiniker, wer Phleg-
matiker
oder Melancholiker ſeyn wollen, wenn er al-
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ihn ſeyn heißt?
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[343/0405] Erſtes Fragment. Etwas von den Temperamenten. Man erwartet vermuthlich in dieſem Werke eine ausfuͤhrliche Abhandlung und eine genaue Cha- rakteriſtik von den Temperamenten, und man irrt ſich. Was ſich daruͤber ſagen laͤßt, haben Haller und Zimmermann, Kaͤmpf und Oberreit, und eine Menge Vor- und Nachſchreiber — von Ariſtoteles bis auf Huart, von Huart auf Boͤhme, von Boͤhme bis auf Lawaͤtz — gut und ſchlecht, mit und ohne Witz geſagt — daß mir nichts zu ſagen uͤbrig ſcheint. Studiert habe ich dieſe Schriftſteller nicht, das heißt, ſie nicht erſt ſelbſt durchaus zu verſtehen geſucht; jegli- chen erſt mit ſich ſelbſt, dann alle unter ſich — dann mit der Natur und mannichfaltigen einzelnen Jndividuen ſie verglichen. So viel aber glaubte ich doch aus allem, was ich daruͤber las, ſchlieſ- ſen zu duͤrfen — daß dieß Feld, ſo bearbeitet es ſcheinen mag, einer ganz neuen Umarbeitung aͤuſ- ſerſt bedarf. Jch ſelbſt habe zu wenig phyſiologiſche Kenntniß, zu wenig Muße, und am wenig- ſten Sinn fuͤr dieſe phyſiologiſch chymiſche Unterſuchung, als daß man etwas ausgearbeitetes, durch- gedachtes von mir erwarten duͤrfte. So wenig ich indeſſen zu leiſten verſprechen kann, wage ich es dennoch, nicht ohne Hoff- nung, zu neuer Beleuchtung dieſes ſo wichtigen Theiles der Menſchenkenntniß, einige Winke oder Veranlaſſungen geben zu koͤnnen. Man pflegt oft die vier gewoͤhnlichen Temperamente zu charakteriſiren, und ſodann dieſen Charakter auf irgend Ein Jndividuum ganz anzuwenden. *) Dadurch veranlaßt man ein anderes Extrem, das der menſchlichen Vernunft zur groͤßten Schande gereicht — Laͤugnung der Tem- peramentsverſchiedenheiten. Jch finde in den Schriften uͤber die Temperamentslehre ge- rade den ſchaͤndlichen Unſinn, wie in einigen beruͤhmten franzoͤſiſchen Schriften uͤber Zeugung und Organifation, die ein unaustilgbarer Schandfleck nicht fuͤr die Religioſitaͤt ihrer Verfaſſer, will ich ſagen, ſondern fuͤr die Philoſophie des Landes und des Jahrhunderts ſind. Daß *) Wer wird Choleriker, Sanguiniker, wer Phleg- matiker oder Melancholiker ſeyn wollen, wenn er al- les das ſeyn ſoll, was der Witz eines Schriftſtellers ihn ſeyn heißt?

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/405>, abgerufen am 23.11.2024.