Daß jeder menschliche Körper, so wie jeder Körper überhaupt, auf eine bestimmte Weise aus verschiedenen gleichartigen und ungleichartigen Jngredienzien zusammengesetzt sey; daß sich, wenn ich so sagen darf, in dem großen Dispensatorium Gottes für jedes Jndividuum eine eigene Mischungsformel, ein besonderes Rezept finden ließe -- wodurch der Grad seines Lebens, die Art seiner Empfindlichkeit, Empfänglichkeit, Wirksamkeit bestimmt wird; *) -- daß mithin jeder Kör- per sein eigenes individuelles Temperament, oder einen eigenen Grad von Reizbarkeit habe -- kann so wenig, als die Verschiedenheit der Gesichter, dem mindesten Zweifel ausgesetzt seyn. Daß Feuchtigkeit und Trockenheit, Feurigkeit und Kälte vier Haupteigenschaften der körperlichen Jngredienzien seyn, ist eben so unläugbar, als daß Wasser und Erde, Feuer und Luft Jngre- dienzien dazu sind. Daß daher gewiß wenigstens vier Haupttemperamente entstehen, das choleri- sche, wo die Wärme, das phlegmatische, wo die Feuchtigkeit, das sanguinische, wo die Luft, das melancholische, wo die Erde die Oberhand hat, das heißt, wo am meisten davon in die Geblütsmasse und in den Nervensaft, und zwar in diesen in höchst subtilisirter fast geistig wirksa- mer Form, eingetreten ist -- ist wieder nicht dem mindesten Zweifel ausgesetzt. Aber auch nicht dem mindesten Zweifel, dünkt mich, vors erste: daß sich diese vier Hauptingredienzien auf so unzählige Weise verändern und versetzen lassen, daß daraus unzählige Temperamente entstehen, und daß oft das prädominirende Prinzipium kaum herauszufinden ist; zumal da aus der Zusammen- fließung und wechselseitigen Anziehung dieser Jngredienzien sehr leicht eine neue Kraft entstehen oder losgebunden werden kann, **) die einen ganz andern Charakter hat, als von den zwey oder drey Jngredienzien jede hatte. Diese neue Kraft kann so verschieden, so namenlos seyn, daß man so- gleich fühlt -- keine der gewöhnlichen Benennungen paßt auf diese prädominirende Kraft. Und was noch wichtiger ist -- als dieses, und weniger beherzigt wird -- ist, daß es in der Natur noch so viele Elemente? -- oder heißt's wie ihr wollt, so viele Jngredienzien zu den Körpern giebt, die nicht Wasser, nicht Luft, nicht Feuer, nicht Erde sind, die ich in den gewöhnlichen Tempera- mentslehren nicht genug mit in Anschlag gebracht sehe, die aber in der Natur gar sehr mit in An-
schlag
*) Oder, wie Böhme andeutet, unzählige besondere Musikalinstrumente, zum Zusammenstimmen gemacht, jedes auf eigne Art gestimmt, Hall und Gegenhall von sich zu geben.
**) Wie z. E. durch Vermischung des Salmiaks und der Potasche.
VI. Abſchnitt. I. Fragment.
Daß jeder menſchliche Koͤrper, ſo wie jeder Koͤrper uͤberhaupt, auf eine beſtimmte Weiſe aus verſchiedenen gleichartigen und ungleichartigen Jngredienzien zuſammengeſetzt ſey; daß ſich, wenn ich ſo ſagen darf, in dem großen Diſpenſatorium Gottes fuͤr jedes Jndividuum eine eigene Miſchungsformel, ein beſonderes Rezept finden ließe — wodurch der Grad ſeines Lebens, die Art ſeiner Empfindlichkeit, Empfaͤnglichkeit, Wirkſamkeit beſtimmt wird; *) — daß mithin jeder Koͤr- per ſein eigenes individuelles Temperament, oder einen eigenen Grad von Reizbarkeit habe — kann ſo wenig, als die Verſchiedenheit der Geſichter, dem mindeſten Zweifel ausgeſetzt ſeyn. Daß Feuchtigkeit und Trockenheit, Feurigkeit und Kaͤlte vier Haupteigenſchaften der koͤrperlichen Jngredienzien ſeyn, iſt eben ſo unlaͤugbar, als daß Waſſer und Erde, Feuer und Luft Jngre- dienzien dazu ſind. Daß daher gewiß wenigſtens vier Haupttemperamente entſtehen, das choleri- ſche, wo die Waͤrme, das phlegmatiſche, wo die Feuchtigkeit, das ſanguiniſche, wo die Luft, das melancholiſche, wo die Erde die Oberhand hat, das heißt, wo am meiſten davon in die Gebluͤtsmaſſe und in den Nervenſaft, und zwar in dieſen in hoͤchſt ſubtiliſirter faſt geiſtig wirkſa- mer Form, eingetreten iſt — iſt wieder nicht dem mindeſten Zweifel ausgeſetzt. Aber auch nicht dem mindeſten Zweifel, duͤnkt mich, vors erſte: daß ſich dieſe vier Hauptingredienzien auf ſo unzaͤhlige Weiſe veraͤndern und verſetzen laſſen, daß daraus unzaͤhlige Temperamente entſtehen, und daß oft das praͤdominirende Prinzipium kaum herauszufinden iſt; zumal da aus der Zuſammen- fließung und wechſelſeitigen Anziehung dieſer Jngredienzien ſehr leicht eine neue Kraft entſtehen oder losgebunden werden kann, **) die einen ganz andern Charakter hat, als von den zwey oder drey Jngredienzien jede hatte. Dieſe neue Kraft kann ſo verſchieden, ſo namenlos ſeyn, daß man ſo- gleich fuͤhlt — keine der gewoͤhnlichen Benennungen paßt auf dieſe praͤdominirende Kraft. Und was noch wichtiger iſt — als dieſes, und weniger beherzigt wird — iſt, daß es in der Natur noch ſo viele Elemente? — oder heißt’s wie ihr wollt, ſo viele Jngredienzien zu den Koͤrpern giebt, die nicht Waſſer, nicht Luft, nicht Feuer, nicht Erde ſind, die ich in den gewoͤhnlichen Tempera- mentslehren nicht genug mit in Anſchlag gebracht ſehe, die aber in der Natur gar ſehr mit in An-
ſchlag
*) Oder, wie Boͤhme andeutet, unzaͤhlige beſondere Muſikalinſtrumente, zum Zuſammenſtimmen gemacht, jedes auf eigne Art geſtimmt, Hall und Gegenhall von ſich zu geben.
**) Wie z. E. durch Vermiſchung des Salmiaks und der Potaſche.
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VI. Abſchnitt. I. Fragment.
Daß jeder menſchliche Koͤrper, ſo wie jeder Koͤrper uͤberhaupt, auf eine beſtimmte Weiſe
aus verſchiedenen gleichartigen und ungleichartigen Jngredienzien zuſammengeſetzt ſey; daß ſich,
wenn ich ſo ſagen darf, in dem großen Diſpenſatorium Gottes fuͤr jedes Jndividuum eine eigene
Miſchungsformel, ein beſonderes Rezept finden ließe — wodurch der Grad ſeines Lebens, die Art
ſeiner Empfindlichkeit, Empfaͤnglichkeit, Wirkſamkeit beſtimmt wird; *) — daß mithin jeder Koͤr-
per ſein eigenes individuelles Temperament, oder einen eigenen Grad von Reizbarkeit habe —
kann ſo wenig, als die Verſchiedenheit der Geſichter, dem mindeſten Zweifel ausgeſetzt ſeyn. Daß
Feuchtigkeit und Trockenheit, Feurigkeit und Kaͤlte vier Haupteigenſchaften der koͤrperlichen
Jngredienzien ſeyn, iſt eben ſo unlaͤugbar, als daß Waſſer und Erde, Feuer und Luft Jngre-
dienzien dazu ſind. Daß daher gewiß wenigſtens vier Haupttemperamente entſtehen, das choleri-
ſche, wo die Waͤrme, das phlegmatiſche, wo die Feuchtigkeit, das ſanguiniſche, wo die
Luft, das melancholiſche, wo die Erde die Oberhand hat, das heißt, wo am meiſten davon in die
Gebluͤtsmaſſe und in den Nervenſaft, und zwar in dieſen in hoͤchſt ſubtiliſirter faſt geiſtig wirkſa-
mer Form, eingetreten iſt — iſt wieder nicht dem mindeſten Zweifel ausgeſetzt. Aber auch nicht
dem mindeſten Zweifel, duͤnkt mich, vors erſte: daß ſich dieſe vier Hauptingredienzien auf ſo
unzaͤhlige Weiſe veraͤndern und verſetzen laſſen, daß daraus unzaͤhlige Temperamente entſtehen, und
daß oft das praͤdominirende Prinzipium kaum herauszufinden iſt; zumal da aus der Zuſammen-
fließung und wechſelſeitigen Anziehung dieſer Jngredienzien ſehr leicht eine neue Kraft entſtehen oder
losgebunden werden kann, **) die einen ganz andern Charakter hat, als von den zwey oder drey
Jngredienzien jede hatte. Dieſe neue Kraft kann ſo verſchieden, ſo namenlos ſeyn, daß man ſo-
gleich fuͤhlt — keine der gewoͤhnlichen Benennungen paßt auf dieſe praͤdominirende Kraft. Und
was noch wichtiger iſt — als dieſes, und weniger beherzigt wird — iſt, daß es in der Natur noch
ſo viele Elemente? — oder heißt’s wie ihr wollt, ſo viele Jngredienzien zu den Koͤrpern giebt, die
nicht Waſſer, nicht Luft, nicht Feuer, nicht Erde ſind, die ich in den gewoͤhnlichen Tempera-
mentslehren nicht genug mit in Anſchlag gebracht ſehe, die aber in der Natur gar ſehr mit in An-
ſchlag
*) Oder, wie Boͤhme andeutet, unzaͤhlige beſondere Muſikalinſtrumente, zum Zuſammenſtimmen gemacht,
jedes auf eigne Art geſtimmt, Hall und Gegenhall von ſich zu geben.
**) Wie z. E. durch Vermiſchung des Salmiaks und der Potaſche.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/406>, abgerufen am 23.11.2024.
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