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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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VIII. Abschnitt. IX. Fragment.
B. Ugolino.
Des IV Ban-
des XLV. Ta-
fel. Ugolino.

Gekratzt, wenn man will, nach West; aber doch nicht ganz schülerhaft! Uebrigens
ein herrlicher Text für den Physiognomisten. Das Länglichte der Gestalt und die da-
mit verbundene unsanguinische Trockenheit schickt sich überhaupt trefflich zu Ugolino's Charakter.
So einfach verschlossen in sich selbst sitzt der planvolle Mann in dumpfem festem Hinstaunen, uner-
bittlich und unerschüttert. Nicht gewaltiger gevierter Knochenbau giebt ihm herkulische Stärke, die
den Schmerz zertritt, und das Unglück wegschlägt. Seine Stärke liegt in den Nerven. Diese
verschlingen Schmerz und Elend mit stiller Duldung.

Sonst ist wider das Gesicht von Seite der Zeichnung und der Physiognomie manches ein-
zuwenden; die Augen sind offenbar zu weit von einander, und dieß schwächt die Kraft der Duldung
gar sehr. Die Augenbraunen sind zu hoch, und ungleich. An sich vortrefflich drückt die rechte
Schmerz, Hunger und duldende Stärke aus; aber es ist unmöglich, daß sie sich so hinaufziehen
könne, wenn die andere sich so herabsenkt. Ferner ist's häufige Beobachtung, daß die Stirnen mit
starken Buckeln über und tiefem Einbuge zwischen den Augenbraunen von sehr empfindlicher un-
elastischer
Reizbarkeit sind. Sie leiden ohne Widerstand, erliegen im Leiden, oder helfen sich mit
kraftloser Rache und bloßem Zornschaum. Auch ist offenbar das Auge von der Nasenspitze, oder
diese von jenem zu entfernt. Alle Gedehntheit schwächt. Unvergleichlich hingegen ist der un-
tere Theil des Gesichtes; Haarwuchs und Bart; -- zu schwach und unbestimmt aber der Hals.



C. Ster-
VIII. Abſchnitt. IX. Fragment.
B. Ugolino.
Des IV Ban-
des XLV. Ta-
fel. Ugolino.

Gekratzt, wenn man will, nach Weſt; aber doch nicht ganz ſchuͤlerhaft! Uebrigens
ein herrlicher Text fuͤr den Phyſiognomiſten. Das Laͤnglichte der Geſtalt und die da-
mit verbundene unſanguiniſche Trockenheit ſchickt ſich uͤberhaupt trefflich zu Ugolino’s Charakter.
So einfach verſchloſſen in ſich ſelbſt ſitzt der planvolle Mann in dumpfem feſtem Hinſtaunen, uner-
bittlich und unerſchuͤttert. Nicht gewaltiger gevierter Knochenbau giebt ihm herkuliſche Staͤrke, die
den Schmerz zertritt, und das Ungluͤck wegſchlaͤgt. Seine Staͤrke liegt in den Nerven. Dieſe
verſchlingen Schmerz und Elend mit ſtiller Duldung.

Sonſt iſt wider das Geſicht von Seite der Zeichnung und der Phyſiognomie manches ein-
zuwenden; die Augen ſind offenbar zu weit von einander, und dieß ſchwaͤcht die Kraft der Duldung
gar ſehr. Die Augenbraunen ſind zu hoch, und ungleich. An ſich vortrefflich druͤckt die rechte
Schmerz, Hunger und duldende Staͤrke aus; aber es iſt unmoͤglich, daß ſie ſich ſo hinaufziehen
koͤnne, wenn die andere ſich ſo herabſenkt. Ferner iſt’s haͤufige Beobachtung, daß die Stirnen mit
ſtarken Buckeln uͤber und tiefem Einbuge zwiſchen den Augenbraunen von ſehr empfindlicher un-
elaſtiſcher
Reizbarkeit ſind. Sie leiden ohne Widerſtand, erliegen im Leiden, oder helfen ſich mit
kraftloſer Rache und bloßem Zornſchaum. Auch iſt offenbar das Auge von der Naſenſpitze, oder
dieſe von jenem zu entfernt. Alle Gedehntheit ſchwaͤcht. Unvergleichlich hingegen iſt der un-
tere Theil des Geſichtes; Haarwuchs und Bart; — zu ſchwach und unbeſtimmt aber der Hals.



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[414/0518] VIII. Abſchnitt. IX. Fragment. B. Ugolino. Gekratzt, wenn man will, nach Weſt; aber doch nicht ganz ſchuͤlerhaft! Uebrigens ein herrlicher Text fuͤr den Phyſiognomiſten. Das Laͤnglichte der Geſtalt und die da- mit verbundene unſanguiniſche Trockenheit ſchickt ſich uͤberhaupt trefflich zu Ugolino’s Charakter. So einfach verſchloſſen in ſich ſelbſt ſitzt der planvolle Mann in dumpfem feſtem Hinſtaunen, uner- bittlich und unerſchuͤttert. Nicht gewaltiger gevierter Knochenbau giebt ihm herkuliſche Staͤrke, die den Schmerz zertritt, und das Ungluͤck wegſchlaͤgt. Seine Staͤrke liegt in den Nerven. Dieſe verſchlingen Schmerz und Elend mit ſtiller Duldung. Sonſt iſt wider das Geſicht von Seite der Zeichnung und der Phyſiognomie manches ein- zuwenden; die Augen ſind offenbar zu weit von einander, und dieß ſchwaͤcht die Kraft der Duldung gar ſehr. Die Augenbraunen ſind zu hoch, und ungleich. An ſich vortrefflich druͤckt die rechte Schmerz, Hunger und duldende Staͤrke aus; aber es iſt unmoͤglich, daß ſie ſich ſo hinaufziehen koͤnne, wenn die andere ſich ſo herabſenkt. Ferner iſt’s haͤufige Beobachtung, daß die Stirnen mit ſtarken Buckeln uͤber und tiefem Einbuge zwiſchen den Augenbraunen von ſehr empfindlicher un- elaſtiſcher Reizbarkeit ſind. Sie leiden ohne Widerſtand, erliegen im Leiden, oder helfen ſich mit kraftloſer Rache und bloßem Zornſchaum. Auch iſt offenbar das Auge von der Naſenſpitze, oder dieſe von jenem zu entfernt. Alle Gedehntheit ſchwaͤcht. Unvergleichlich hingegen iſt der un- tere Theil des Geſichtes; Haarwuchs und Bart; — zu ſchwach und unbeſtimmt aber der Hals. C. Ster-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/518>, abgerufen am 22.11.2024.