Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.I. Abschnitt. I. Fragment. wesen, als das von einem Wachsbilde) an jeder Statue bemerkt ein mittelmäßiger Kenner dasAbgeschlagene, Abgefeilte, Angeflickte, Abgeschliffene späterer Hand -- Warum sollt' es am Men- schen unerkennbar seyn? Warum die Urform des Menschen nicht mehr durch alle Zufälle durchschei- nen können, als die Schönheit und Größe einer herrlichen Statue auch noch in der stumpfen Trüm- mer sichtbar ist? "Füllt die Seele den Körper, wie ein elastisches Flüssige, das allezeit die Form des Gefäs- Man mag die Frage mit Ja oder Nein beantworten; der Frager gewinnt wenig dabey. Sagt man Ja -- die Seele füllt den Körper, wie ein clastisches Flüssiges, das allezeit die Sagt man Nein -- Alle diese Gleichnisse sind nur für gewisse Fälle zur Erläuterung be- Was aber hätte man dennoch auf eine weniger witzelnde -- auf die ganz simple Frage zu Wir unterschreiben den Gedanken von Herzen, daß es unsinnig sey zu behaupten: "Die schöner,
I. Abſchnitt. I. Fragment. weſen, als das von einem Wachsbilde) an jeder Statue bemerkt ein mittelmaͤßiger Kenner dasAbgeſchlagene, Abgefeilte, Angeflickte, Abgeſchliffene ſpaͤterer Hand — Warum ſollt’ es am Men- ſchen unerkennbar ſeyn? Warum die Urform des Menſchen nicht mehr durch alle Zufaͤlle durchſchei- nen koͤnnen, als die Schoͤnheit und Groͤße einer herrlichen Statue auch noch in der ſtumpfen Truͤm- mer ſichtbar iſt? „Fuͤllt die Seele den Koͤrper, wie ein elaſtiſches Fluͤſſige, das allezeit die Form des Gefaͤſ- Man mag die Frage mit Ja oder Nein beantworten; der Frager gewinnt wenig dabey. Sagt man Ja — die Seele fuͤllt den Koͤrper, wie ein claſtiſches Fluͤſſiges, das allezeit die Sagt man Nein — Alle dieſe Gleichniſſe ſind nur fuͤr gewiſſe Faͤlle zur Erlaͤuterung be- Was aber haͤtte man dennoch auf eine weniger witzelnde — auf die ganz ſimple Frage zu Wir unterſchreiben den Gedanken von Herzen, daß es unſinnig ſey zu behaupten: „Die ſchoͤner,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0054" n="32"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#g">Abſchnitt.</hi><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#g">Fragment.</hi></hi></fw><lb/> weſen, als das von einem Wachsbilde) an jeder Statue bemerkt ein mittelmaͤßiger Kenner das<lb/> Abgeſchlagene, Abgefeilte, Angeflickte, Abgeſchliffene ſpaͤterer Hand — Warum ſollt’ es am Men-<lb/> ſchen unerkennbar ſeyn? Warum die Urform des Menſchen nicht mehr durch alle Zufaͤlle durchſchei-<lb/> nen koͤnnen, als die Schoͤnheit und Groͤße einer herrlichen Statue auch noch in der ſtumpfen Truͤm-<lb/> mer ſichtbar iſt?</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>„Fuͤllt die Seele den Koͤrper, wie ein elaſtiſches Fluͤſſige, das allezeit die Form des Gefaͤſ-<lb/> „ſes annimmt; ſo daß, wenn eine platte Naſe Schadenfreude bedeutet, der ſchadenfroh wird, dem<lb/> „man die Naſe platt druͤckt? (Seite 6.)</p><lb/> <p>Man mag die Frage mit <hi rendition="#fr">Ja</hi> oder <hi rendition="#fr">Nein</hi> beantworten; der Frager gewinnt wenig dabey.</p><lb/> <p>Sagt man <hi rendition="#fr">Ja</hi> — die Seele fuͤllt den Koͤrper, wie ein claſtiſches Fluͤſſiges, das allezeit die<lb/> Form des Gefaͤßes annimmt — Was iſt denn gewonnen? Wuͤrde denn daraus folgen — daß<lb/> durch eine <hi rendition="#fr">Stuͤmpfung der Naſe</hi> ſo viel von ihrer <hi rendition="#fr">innern Elaſtizitaͤt</hi> verloren gienge, als erfor-<lb/> dert wurde, dieſe Naſe herauszutreiben?</p><lb/> <p>Sagt man <hi rendition="#fr">Nein</hi> — Alle dieſe Gleichniſſe ſind nur fuͤr gewiſſe Faͤlle zur Erlaͤuterung be-<lb/> quem; mit nichten ſoll daraus, als aus Factis, gefolgert werden, was iſt dann wieder gewonnen?</p><lb/> <p>Was aber haͤtte man dennoch auf eine weniger witzelnde — auf die ganz ſimple Frage zu<lb/> antworten? „Hat man keine Beyſpiele — daß Verſtuͤmmelung des Koͤrpers die Seele verſtuͤm-<lb/> „melt? daß Verletzung, Verdruͤckung des Hirnſchaͤdels den Verſtand raubt? daß Caſtration aus<lb/> „einem Manne ein halbes Weib macht?“ — Aber Witz mit Vernunft beantworten — ſagt ein<lb/> witziger Schriftſteller, heißt — „einen Aal beym Schwanze feſthalten wollen.“</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Wir unterſchreiben den Gedanken von Herzen, daß es unſinnig ſey zu behaupten: „Die<lb/> „ſchoͤnſte Seele bewohne den ſchoͤnſten Koͤrper, und die haͤßlichſte den haͤßlichſten.“ Wir haben<lb/> uns hieruͤber in vorigen Fragmenten ſo hinlaͤnglich erklaͤrt, daß es unbegreiflich ſcheint, wie man<lb/> uns dieſen ſo hingeworfenen Gedanken noch aufbuͤrden koͤnne — wir ſagen nur: Es giebt eine Pro-<lb/> portion und Schoͤnheit der Koͤrper, die der ſchoͤnſten Tugenden und großer Empfindungen und Tha-<lb/> ten empfaͤnglicher iſt, als gewiſſe ſchlechte. Wir ſagen nur mit dem Verfaſſer — <hi rendition="#fr">Tugend macht</hi><lb/> <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">ſchoͤner,</hi></fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [32/0054]
I. Abſchnitt. I. Fragment.
weſen, als das von einem Wachsbilde) an jeder Statue bemerkt ein mittelmaͤßiger Kenner das
Abgeſchlagene, Abgefeilte, Angeflickte, Abgeſchliffene ſpaͤterer Hand — Warum ſollt’ es am Men-
ſchen unerkennbar ſeyn? Warum die Urform des Menſchen nicht mehr durch alle Zufaͤlle durchſchei-
nen koͤnnen, als die Schoͤnheit und Groͤße einer herrlichen Statue auch noch in der ſtumpfen Truͤm-
mer ſichtbar iſt?
„Fuͤllt die Seele den Koͤrper, wie ein elaſtiſches Fluͤſſige, das allezeit die Form des Gefaͤſ-
„ſes annimmt; ſo daß, wenn eine platte Naſe Schadenfreude bedeutet, der ſchadenfroh wird, dem
„man die Naſe platt druͤckt? (Seite 6.)
Man mag die Frage mit Ja oder Nein beantworten; der Frager gewinnt wenig dabey.
Sagt man Ja — die Seele fuͤllt den Koͤrper, wie ein claſtiſches Fluͤſſiges, das allezeit die
Form des Gefaͤßes annimmt — Was iſt denn gewonnen? Wuͤrde denn daraus folgen — daß
durch eine Stuͤmpfung der Naſe ſo viel von ihrer innern Elaſtizitaͤt verloren gienge, als erfor-
dert wurde, dieſe Naſe herauszutreiben?
Sagt man Nein — Alle dieſe Gleichniſſe ſind nur fuͤr gewiſſe Faͤlle zur Erlaͤuterung be-
quem; mit nichten ſoll daraus, als aus Factis, gefolgert werden, was iſt dann wieder gewonnen?
Was aber haͤtte man dennoch auf eine weniger witzelnde — auf die ganz ſimple Frage zu
antworten? „Hat man keine Beyſpiele — daß Verſtuͤmmelung des Koͤrpers die Seele verſtuͤm-
„melt? daß Verletzung, Verdruͤckung des Hirnſchaͤdels den Verſtand raubt? daß Caſtration aus
„einem Manne ein halbes Weib macht?“ — Aber Witz mit Vernunft beantworten — ſagt ein
witziger Schriftſteller, heißt — „einen Aal beym Schwanze feſthalten wollen.“
Wir unterſchreiben den Gedanken von Herzen, daß es unſinnig ſey zu behaupten: „Die
„ſchoͤnſte Seele bewohne den ſchoͤnſten Koͤrper, und die haͤßlichſte den haͤßlichſten.“ Wir haben
uns hieruͤber in vorigen Fragmenten ſo hinlaͤnglich erklaͤrt, daß es unbegreiflich ſcheint, wie man
uns dieſen ſo hingeworfenen Gedanken noch aufbuͤrden koͤnne — wir ſagen nur: Es giebt eine Pro-
portion und Schoͤnheit der Koͤrper, die der ſchoͤnſten Tugenden und großer Empfindungen und Tha-
ten empfaͤnglicher iſt, als gewiſſe ſchlechte. Wir ſagen nur mit dem Verfaſſer — Tugend macht
ſchoͤner,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |