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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Anmerkungen zu einer physiognomischen Abhandlung.
schöner, Laster häßlicher. Wir behaupten von ganzem Herzen, daß die Ehrlichkeit in allen auch
den unschönsten Formen der Menschheit, und das Laster in den schönsten wohnen kann.



Dahingehen lassen wir's auch, wenn es (Seite 13.) heißt: "Unsere Sprachen sind höchst
"arm an eigentlich physiognomischen Beobachtungen; wäre etwas wahres darinn, die Völker hät-
"ten es gewiß ebenfalls in diese Archive ihrer Weisheit gelegt -- Die Nase kömmt in hundert
"Sprichwörtern und Redensarten vor, aber immer pathognomisch" -- (Jch kenne außer dem Na-
senrümpfen
weder 99. noch 9. noch 3. andere) "als Zeichen vorübergehender Handlungen, und
"niemals physiognomisch, oder Zeichen stehenden Charakters, oder Anlage." -- Homo obesae,
obtusae naris
-- sagten doch die Alten. Und wenn sie's nicht sagten, was beweisets, wenn a
posteriori
dargethan werden kann, daß physiognomischer Charakter darinn liegt?

Jch bin nicht gelehrt genug, und wenn ichs wäre, hielt ichs der Mühe nicht werth, aus
Homer, aus Sueton, Martial und hundert andern Gegenbeweise, so viel man will, anzufüh-
ren. Was ist, ist; habens die Alten gesehen oder nicht. Für Schulknaben mag das Staub in
die Augen seyn; aber nicht für Weise und Männer, die eigne Augen haben zu sehen und hinzugrei-
fen, und wissen, daß jedem Zeitalter sein Maaß von besondern Entdeckungen zugemessen ist, so wie
auch jedem hinwiederum eine Anzahl von Schreyern wider jede neue Entdeckung, wovon die Alten
nichts sagten.



"Was der Mensch könnte geworden seyn, sagt unser Verfasser, will ich nicht wis-
"sen; sondern ich will wissen, was er ist.
" (Seite 9.) Und ich, wenn ichs wissen kann, will
beydes wissen. -- Manche Bösewichter gleichen kostbaren Gemählden, die durch den Lack verdor-
ben worden. Jhr wollt das Gemählde nicht mehr ansehen? das ist des Anhörens nicht werth?
nicht des Entsiegelns werth der Brief eines Kenners, der euch sagt -- "So ist das Gemählde --
"und es ist noch Möglichkeit da, den Lack wegzubringen; denn so stark sind dieses Meisters Farben auf-
"getragen, und von solcher innerer Güte, daß kein Lack tief genug eindringen konnte -- daß zu
"befürchten wäre, sie, wenn er sorgfältig ausgelößt wird, mit wegzulöschen" -- An dem liegt euch
nichts?

Jhr
Phys. Fragm. IV Versuch. E

Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung.
ſchoͤner, Laſter haͤßlicher. Wir behaupten von ganzem Herzen, daß die Ehrlichkeit in allen auch
den unſchoͤnſten Formen der Menſchheit, und das Laſter in den ſchoͤnſten wohnen kann.



Dahingehen laſſen wir’s auch, wenn es (Seite 13.) heißt: „Unſere Sprachen ſind hoͤchſt
„arm an eigentlich phyſiognomiſchen Beobachtungen; waͤre etwas wahres darinn, die Voͤlker haͤt-
„ten es gewiß ebenfalls in dieſe Archive ihrer Weisheit gelegt — Die Naſe koͤmmt in hundert
„Sprichwoͤrtern und Redensarten vor, aber immer pathognomiſch“ — (Jch kenne außer dem Na-
ſenruͤmpfen
weder 99. noch 9. noch 3. andere) „als Zeichen voruͤbergehender Handlungen, und
„niemals phyſiognomiſch, oder Zeichen ſtehenden Charakters, oder Anlage.“ — Homo obeſae,
obtuſae naris
— ſagten doch die Alten. Und wenn ſie’s nicht ſagten, was beweiſets, wenn a
poſteriori
dargethan werden kann, daß phyſiognomiſcher Charakter darinn liegt?

Jch bin nicht gelehrt genug, und wenn ichs waͤre, hielt ichs der Muͤhe nicht werth, aus
Homer, aus Sueton, Martial und hundert andern Gegenbeweiſe, ſo viel man will, anzufuͤh-
ren. Was iſt, iſt; habens die Alten geſehen oder nicht. Fuͤr Schulknaben mag das Staub in
die Augen ſeyn; aber nicht fuͤr Weiſe und Maͤnner, die eigne Augen haben zu ſehen und hinzugrei-
fen, und wiſſen, daß jedem Zeitalter ſein Maaß von beſondern Entdeckungen zugemeſſen iſt, ſo wie
auch jedem hinwiederum eine Anzahl von Schreyern wider jede neue Entdeckung, wovon die Alten
nichts ſagten.



Was der Menſch koͤnnte geworden ſeyn, ſagt unſer Verfaſſer, will ich nicht wiſ-
„ſen; ſondern ich will wiſſen, was er iſt.
“ (Seite 9.) Und ich, wenn ichs wiſſen kann, will
beydes wiſſen. — Manche Boͤſewichter gleichen koſtbaren Gemaͤhlden, die durch den Lack verdor-
ben worden. Jhr wollt das Gemaͤhlde nicht mehr anſehen? das iſt des Anhoͤrens nicht werth?
nicht des Entſiegelns werth der Brief eines Kenners, der euch ſagt — „So iſt das Gemaͤhlde —
„und es iſt noch Moͤglichkeit da, den Lack wegzubringen; denn ſo ſtark ſind dieſes Meiſters Farben auf-
„getragen, und von ſolcher innerer Guͤte, daß kein Lack tief genug eindringen konnte — daß zu
„befuͤrchten waͤre, ſie, wenn er ſorgfaͤltig ausgeloͤßt wird, mit wegzuloͤſchen“ — An dem liegt euch
nichts?

Jhr
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. E
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[33/0055] Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung. ſchoͤner, Laſter haͤßlicher. Wir behaupten von ganzem Herzen, daß die Ehrlichkeit in allen auch den unſchoͤnſten Formen der Menſchheit, und das Laſter in den ſchoͤnſten wohnen kann. Dahingehen laſſen wir’s auch, wenn es (Seite 13.) heißt: „Unſere Sprachen ſind hoͤchſt „arm an eigentlich phyſiognomiſchen Beobachtungen; waͤre etwas wahres darinn, die Voͤlker haͤt- „ten es gewiß ebenfalls in dieſe Archive ihrer Weisheit gelegt — Die Naſe koͤmmt in hundert „Sprichwoͤrtern und Redensarten vor, aber immer pathognomiſch“ — (Jch kenne außer dem Na- ſenruͤmpfen weder 99. noch 9. noch 3. andere) „als Zeichen voruͤbergehender Handlungen, und „niemals phyſiognomiſch, oder Zeichen ſtehenden Charakters, oder Anlage.“ — Homo obeſae, obtuſae naris — ſagten doch die Alten. Und wenn ſie’s nicht ſagten, was beweiſets, wenn a poſteriori dargethan werden kann, daß phyſiognomiſcher Charakter darinn liegt? Jch bin nicht gelehrt genug, und wenn ichs waͤre, hielt ichs der Muͤhe nicht werth, aus Homer, aus Sueton, Martial und hundert andern Gegenbeweiſe, ſo viel man will, anzufuͤh- ren. Was iſt, iſt; habens die Alten geſehen oder nicht. Fuͤr Schulknaben mag das Staub in die Augen ſeyn; aber nicht fuͤr Weiſe und Maͤnner, die eigne Augen haben zu ſehen und hinzugrei- fen, und wiſſen, daß jedem Zeitalter ſein Maaß von beſondern Entdeckungen zugemeſſen iſt, ſo wie auch jedem hinwiederum eine Anzahl von Schreyern wider jede neue Entdeckung, wovon die Alten nichts ſagten. „Was der Menſch koͤnnte geworden ſeyn, ſagt unſer Verfaſſer, will ich nicht wiſ- „ſen; ſondern ich will wiſſen, was er iſt.“ (Seite 9.) Und ich, wenn ichs wiſſen kann, will beydes wiſſen. — Manche Boͤſewichter gleichen koſtbaren Gemaͤhlden, die durch den Lack verdor- ben worden. Jhr wollt das Gemaͤhlde nicht mehr anſehen? das iſt des Anhoͤrens nicht werth? nicht des Entſiegelns werth der Brief eines Kenners, der euch ſagt — „So iſt das Gemaͤhlde — „und es iſt noch Moͤglichkeit da, den Lack wegzubringen; denn ſo ſtark ſind dieſes Meiſters Farben auf- „getragen, und von ſolcher innerer Guͤte, daß kein Lack tief genug eindringen konnte — daß zu „befuͤrchten waͤre, ſie, wenn er ſorgfaͤltig ausgeloͤßt wird, mit wegzuloͤſchen“ — An dem liegt euch nichts? Jhr Phyſ. Fragm. IV Verſuch. E

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/55>, abgerufen am 21.11.2024.