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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Gleichartigkeit der Menschengestalt.
ebenderselbe. Er hat nur einen gewissen Spielraum, in dem sich alle seine Kräfte und Empfindun-
gen regen. Jn diesem kann er frey wirken; aber über denselben nicht hinaus gehen. Jedes Ge-
sicht verändert sich, wenn man will, obgleich unmerklich, auch in seinen festen Theilen alle Augen-
blicke. Aber jede Veränderung des Gesichtes ist dem Gesichte angemessen. Jedes hat ein besonderes
Maaß und eine besondere ihm eigenthümliche Art von Veränderlichkeit. Es kann sich nur auf eine
gewisse Weise verändern. Selbst das Affektirte, Angenommene, Nachgeahmte, Heterogene -- hat
wieder seine Jndividualität und Eigenthümlichkeit, die abermals aus der Natur des Ganzen ent-
springt, und so bestimmt nur in diesem und keinem andern Wesen möglich ist. --

Beynahe schäme ich mich, meinem Zeitalter das noch sagen zu müssen. Nachkommen! was
werdet ihr von uns denken, daß ich noch beweisen mußte, und so oft so manchen seyn wollenden
Weisen umsonst bewies -- Die Natur flickt nicht: Die Natur arbeitet aus Einem auf al-
les: Jhre Organisationen sind nicht
Pieces de Rapport; nicht musaische Arbeit. Je
musaischer eine Arbeit des Künstlers, des Dichters, des Redners ist, desto unnatürlicher. Je we-
niger von innen heraus; je weniger sich ergießend aus Einem Quell; Einem Stamme forttreibend in
die äußersten Aeste. Je mehr Entwickelung aus Einem zu Einem, desto mehr Wahrheit, Kraft,
Natur; desto herrlicher, ausgebreiteter, allgemeiner, daurender die Wirkung. Die Entwürfe
der Natur sind Entwürfe Eines Moments.
Ein Gedanke, Ein Geist ergießt sich durch alle
Zweige nachheriger Entwickelung. So schafft die Natur die niedrigste Pflanze und den erhaben-
sten Menschen. Jch habe nichts geleistet durch meine physiognomischen Bemühungen -- wenn ich
nicht wegzuräumen im Stande war das abgeschmackte, unsers Zeitalters unwürdige -- aller ge-
sunden Philosophie und aller Erfahrung trutzende Vorurtheil, die Natur flickt Gesichtstheile
von verschiedenen Gesichtern zusammen.
Und belohnt bin ich für meine Arbeiten alle, wenn
die Homogenität, Zusammenstimmung, Einerleyheit der menschlichen Organisation -- so fühlbar
geworden ist, daß der die Sonne am Mittag zu läugnen geachtet wird, der diese läugnet.

Ein Gewächs ist der menschliche Körper. Jeder Theil hat den Charakter des Stammes.
Laßt michs ohne Ende wiederholen; weil dem evidentesten aller Sätze ohne Ende widersprochen wird.
Widersprochen von allen Arten von Menschen; widersprochen durch Worte und Thaten; Schrif-
ten und Kunstwerke.

Jn
Phys. Fragm. IV Versuch. F

Gleichartigkeit der Menſchengeſtalt.
ebenderſelbe. Er hat nur einen gewiſſen Spielraum, in dem ſich alle ſeine Kraͤfte und Empfindun-
gen regen. Jn dieſem kann er frey wirken; aber uͤber denſelben nicht hinaus gehen. Jedes Ge-
ſicht veraͤndert ſich, wenn man will, obgleich unmerklich, auch in ſeinen feſten Theilen alle Augen-
blicke. Aber jede Veraͤnderung des Geſichtes iſt dem Geſichte angemeſſen. Jedes hat ein beſonderes
Maaß und eine beſondere ihm eigenthuͤmliche Art von Veraͤnderlichkeit. Es kann ſich nur auf eine
gewiſſe Weiſe veraͤndern. Selbſt das Affektirte, Angenommene, Nachgeahmte, Heterogene — hat
wieder ſeine Jndividualitaͤt und Eigenthuͤmlichkeit, die abermals aus der Natur des Ganzen ent-
ſpringt, und ſo beſtimmt nur in dieſem und keinem andern Weſen moͤglich iſt. —

Beynahe ſchaͤme ich mich, meinem Zeitalter das noch ſagen zu muͤſſen. Nachkommen! was
werdet ihr von uns denken, daß ich noch beweiſen mußte, und ſo oft ſo manchen ſeyn wollenden
Weiſen umſonſt bewies — Die Natur flickt nicht: Die Natur arbeitet aus Einem auf al-
les: Jhre Organiſationen ſind nicht
Pieçes de Rapport; nicht muſaiſche Arbeit. Je
muſaiſcher eine Arbeit des Kuͤnſtlers, des Dichters, des Redners iſt, deſto unnatuͤrlicher. Je we-
niger von innen heraus; je weniger ſich ergießend aus Einem Quell; Einem Stamme forttreibend in
die aͤußerſten Aeſte. Je mehr Entwickelung aus Einem zu Einem, deſto mehr Wahrheit, Kraft,
Natur; deſto herrlicher, ausgebreiteter, allgemeiner, daurender die Wirkung. Die Entwuͤrfe
der Natur ſind Entwuͤrfe Eines Moments.
Ein Gedanke, Ein Geiſt ergießt ſich durch alle
Zweige nachheriger Entwickelung. So ſchafft die Natur die niedrigſte Pflanze und den erhaben-
ſten Menſchen. Jch habe nichts geleiſtet durch meine phyſiognomiſchen Bemuͤhungen — wenn ich
nicht wegzuraͤumen im Stande war das abgeſchmackte, unſers Zeitalters unwuͤrdige — aller ge-
ſunden Philoſophie und aller Erfahrung trutzende Vorurtheil, die Natur flickt Geſichtstheile
von verſchiedenen Geſichtern zuſammen.
Und belohnt bin ich fuͤr meine Arbeiten alle, wenn
die Homogenitaͤt, Zuſammenſtimmung, Einerleyheit der menſchlichen Organiſation — ſo fuͤhlbar
geworden iſt, daß der die Sonne am Mittag zu laͤugnen geachtet wird, der dieſe laͤugnet.

Ein Gewaͤchs iſt der menſchliche Koͤrper. Jeder Theil hat den Charakter des Stammes.
Laßt michs ohne Ende wiederholen; weil dem evidenteſten aller Saͤtze ohne Ende widerſprochen wird.
Widerſprochen von allen Arten von Menſchen; widerſprochen durch Worte und Thaten; Schrif-
ten und Kunſtwerke.

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Phyſ. Fragm. IV Verſuch. F
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[41/0063] Gleichartigkeit der Menſchengeſtalt. ebenderſelbe. Er hat nur einen gewiſſen Spielraum, in dem ſich alle ſeine Kraͤfte und Empfindun- gen regen. Jn dieſem kann er frey wirken; aber uͤber denſelben nicht hinaus gehen. Jedes Ge- ſicht veraͤndert ſich, wenn man will, obgleich unmerklich, auch in ſeinen feſten Theilen alle Augen- blicke. Aber jede Veraͤnderung des Geſichtes iſt dem Geſichte angemeſſen. Jedes hat ein beſonderes Maaß und eine beſondere ihm eigenthuͤmliche Art von Veraͤnderlichkeit. Es kann ſich nur auf eine gewiſſe Weiſe veraͤndern. Selbſt das Affektirte, Angenommene, Nachgeahmte, Heterogene — hat wieder ſeine Jndividualitaͤt und Eigenthuͤmlichkeit, die abermals aus der Natur des Ganzen ent- ſpringt, und ſo beſtimmt nur in dieſem und keinem andern Weſen moͤglich iſt. — Beynahe ſchaͤme ich mich, meinem Zeitalter das noch ſagen zu muͤſſen. Nachkommen! was werdet ihr von uns denken, daß ich noch beweiſen mußte, und ſo oft ſo manchen ſeyn wollenden Weiſen umſonſt bewies — Die Natur flickt nicht: Die Natur arbeitet aus Einem auf al- les: Jhre Organiſationen ſind nicht Pieçes de Rapport; nicht muſaiſche Arbeit. Je muſaiſcher eine Arbeit des Kuͤnſtlers, des Dichters, des Redners iſt, deſto unnatuͤrlicher. Je we- niger von innen heraus; je weniger ſich ergießend aus Einem Quell; Einem Stamme forttreibend in die aͤußerſten Aeſte. Je mehr Entwickelung aus Einem zu Einem, deſto mehr Wahrheit, Kraft, Natur; deſto herrlicher, ausgebreiteter, allgemeiner, daurender die Wirkung. Die Entwuͤrfe der Natur ſind Entwuͤrfe Eines Moments. Ein Gedanke, Ein Geiſt ergießt ſich durch alle Zweige nachheriger Entwickelung. So ſchafft die Natur die niedrigſte Pflanze und den erhaben- ſten Menſchen. Jch habe nichts geleiſtet durch meine phyſiognomiſchen Bemuͤhungen — wenn ich nicht wegzuraͤumen im Stande war das abgeſchmackte, unſers Zeitalters unwuͤrdige — aller ge- ſunden Philoſophie und aller Erfahrung trutzende Vorurtheil, die Natur flickt Geſichtstheile von verſchiedenen Geſichtern zuſammen. Und belohnt bin ich fuͤr meine Arbeiten alle, wenn die Homogenitaͤt, Zuſammenſtimmung, Einerleyheit der menſchlichen Organiſation — ſo fuͤhlbar geworden iſt, daß der die Sonne am Mittag zu laͤugnen geachtet wird, der dieſe laͤugnet. Ein Gewaͤchs iſt der menſchliche Koͤrper. Jeder Theil hat den Charakter des Stammes. Laßt michs ohne Ende wiederholen; weil dem evidenteſten aller Saͤtze ohne Ende widerſprochen wird. Widerſprochen von allen Arten von Menſchen; widerſprochen durch Worte und Thaten; Schrif- ten und Kunſtwerke. Jn Phyſ. Fragm. IV Verſuch. F

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/63>, abgerufen am 24.11.2024.