Jn den Köpfen der größten Meister finde ich hierinn die auffallendsten Jncongruenzen. -- Jch kenne keinen, von dem ich sagen könnte: Der hat die Harmonie des menschlichen Umrisses durchaus studiert. Selbst Poußin; selbst Raphael nicht. Man classifizire nur ihre Gesichtsfor- men -- und analogische Gesichtsformen der Natur; das heißt: Man zeichne sich z. E- die Umrisse ihrer Stirnen, und suche sich ähnliche in der Natur aus -- und vergleiche die Fortsetzungen von beyden -- und man wird mehr Jncongruenz finden, als man von so großen Meistern erwartete.
Wenn man das zu Länglichte, Gedehnte wegrechnet, so hat vielleicht Chodowiecki am meisten Gefühl fürs Homogene -- in der Carrikatur; das heißt, für die Zusammenschicklichkeit verzerrter, possirlicher, oder sonst charakteristischer Glieder und Züge. Denn wie's in den schönen Figuren eine Homogenität und Gleichartigkeit giebt, so auch in den schlechten. Ein jeder Krüppel hat seine ihm eigene Art von Krüppelhaftigkeit, die sich durch alle Theile seines Körpers verbrei- tet. So wie alle böse Handlungen eines bösen, und alle gute eines guten Menschen denselben Charakter, wenigstens alle eine Tinktur desselben Charakters haben -- -- Obgleich dieß von Dich- tern und Mahlern so wenig beherziget wird, scheint's dennoch wie angeborner Grundsatz aller dich- tenden und bildenden Künste zu seyn; und wo man das Zusammengeflickte bemerkt, hat alle Be- wunderung ein Ende. -- Warum ließ sichs noch kein Mahler einfallen -- ein blaues Auge neben ein braunes zu setzen? Und eben so ungereimt, als dieses wäre, ist die tausendmal vorliegende, einem feinen physiognomischen Auge gerade so unausstehliche Ungereimtheit: -- Eine Nase von ei- ner Venus an einen Madonakopf anzuflicken. -- Ein Weltmann versicherte mich, bloß durch ein Nasenfutter auf der Maskerade allen seinen Bekanntesten unkenntlich geworden zu seyn. So sehr respuirt die Natur alles Fremde.
Um die Sache außer allen Zweifel zu setzen, nehme man z. E. tausend genau gezeichnete Silhouetten; klassifizire allervörderst bloß die Stirnen -- (wie wir an seinem Orte zeigen werden, daß alle wirkliche und mögliche Menschenstirnen sich unter bestimmte klassische Zeichen fassen lassen, und daß es nicht unzählige Klassen giebt) Man klassifizire, sage ich, bloß die Stirnen allein; dann die Nasen allein; dann das Kinn, und lege die klassischen Zeichen von Nasen und Stirnen zusam- men -- und man wird finden, daß gewisse Nasen sich nie bey gewissen Stirnen -- und bey gewissen Stirnen sich allemal eine gewisse Art von Nasen finden werden, und so würde es bey allen übrigen
Gesichts-
I. Abſchnitt. III. Fragment.
Jn den Koͤpfen der groͤßten Meiſter finde ich hierinn die auffallendſten Jncongruenzen. — Jch kenne keinen, von dem ich ſagen koͤnnte: Der hat die Harmonie des menſchlichen Umriſſes durchaus ſtudiert. Selbſt Poußin; ſelbſt Raphael nicht. Man claſſifizire nur ihre Geſichtsfor- men — und analogiſche Geſichtsformen der Natur; das heißt: Man zeichne ſich z. E- die Umriſſe ihrer Stirnen, und ſuche ſich aͤhnliche in der Natur aus — und vergleiche die Fortſetzungen von beyden — und man wird mehr Jncongruenz finden, als man von ſo großen Meiſtern erwartete.
Wenn man das zu Laͤnglichte, Gedehnte wegrechnet, ſo hat vielleicht Chodowiecki am meiſten Gefuͤhl fuͤrs Homogene — in der Carrikatur; das heißt, fuͤr die Zuſammenſchicklichkeit verzerrter, poſſirlicher, oder ſonſt charakteriſtiſcher Glieder und Zuͤge. Denn wie’s in den ſchoͤnen Figuren eine Homogenitaͤt und Gleichartigkeit giebt, ſo auch in den ſchlechten. Ein jeder Kruͤppel hat ſeine ihm eigene Art von Kruͤppelhaftigkeit, die ſich durch alle Theile ſeines Koͤrpers verbrei- tet. So wie alle boͤſe Handlungen eines boͤſen, und alle gute eines guten Menſchen denſelben Charakter, wenigſtens alle eine Tinktur deſſelben Charakters haben — — Obgleich dieß von Dich- tern und Mahlern ſo wenig beherziget wird, ſcheint’s dennoch wie angeborner Grundſatz aller dich- tenden und bildenden Kuͤnſte zu ſeyn; und wo man das Zuſammengeflickte bemerkt, hat alle Be- wunderung ein Ende. — Warum ließ ſichs noch kein Mahler einfallen — ein blaues Auge neben ein braunes zu ſetzen? Und eben ſo ungereimt, als dieſes waͤre, iſt die tauſendmal vorliegende, einem feinen phyſiognomiſchen Auge gerade ſo unausſtehliche Ungereimtheit: — Eine Naſe von ei- ner Venus an einen Madonakopf anzuflicken. — Ein Weltmann verſicherte mich, bloß durch ein Naſenfutter auf der Maskerade allen ſeinen Bekannteſten unkenntlich geworden zu ſeyn. So ſehr reſpuirt die Natur alles Fremde.
Um die Sache außer allen Zweifel zu ſetzen, nehme man z. E. tauſend genau gezeichnete Silhouetten; klaſſifizire allervoͤrderſt bloß die Stirnen — (wie wir an ſeinem Orte zeigen werden, daß alle wirkliche und moͤgliche Menſchenſtirnen ſich unter beſtimmte klaſſiſche Zeichen faſſen laſſen, und daß es nicht unzaͤhlige Klaſſen giebt) Man klaſſifizire, ſage ich, bloß die Stirnen allein; dann die Naſen allein; dann das Kinn, und lege die klaſſiſchen Zeichen von Naſen und Stirnen zuſam- men — und man wird finden, daß gewiſſe Naſen ſich nie bey gewiſſen Stirnen — und bey gewiſſen Stirnen ſich allemal eine gewiſſe Art von Naſen finden werden, und ſo wuͤrde es bey allen uͤbrigen
Geſichts-
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I. Abſchnitt. III. Fragment.
Jn den Koͤpfen der groͤßten Meiſter finde ich hierinn die auffallendſten Jncongruenzen. —
Jch kenne keinen, von dem ich ſagen koͤnnte: Der hat die Harmonie des menſchlichen Umriſſes
durchaus ſtudiert. Selbſt Poußin; ſelbſt Raphael nicht. Man claſſifizire nur ihre Geſichtsfor-
men — und analogiſche Geſichtsformen der Natur; das heißt: Man zeichne ſich z. E- die Umriſſe
ihrer Stirnen, und ſuche ſich aͤhnliche in der Natur aus — und vergleiche die Fortſetzungen von
beyden — und man wird mehr Jncongruenz finden, als man von ſo großen Meiſtern erwartete.
Wenn man das zu Laͤnglichte, Gedehnte wegrechnet, ſo hat vielleicht Chodowiecki am
meiſten Gefuͤhl fuͤrs Homogene — in der Carrikatur; das heißt, fuͤr die Zuſammenſchicklichkeit
verzerrter, poſſirlicher, oder ſonſt charakteriſtiſcher Glieder und Zuͤge. Denn wie’s in den ſchoͤnen
Figuren eine Homogenitaͤt und Gleichartigkeit giebt, ſo auch in den ſchlechten. Ein jeder Kruͤppel
hat ſeine ihm eigene Art von Kruͤppelhaftigkeit, die ſich durch alle Theile ſeines Koͤrpers verbrei-
tet. So wie alle boͤſe Handlungen eines boͤſen, und alle gute eines guten Menſchen denſelben
Charakter, wenigſtens alle eine Tinktur deſſelben Charakters haben — — Obgleich dieß von Dich-
tern und Mahlern ſo wenig beherziget wird, ſcheint’s dennoch wie angeborner Grundſatz aller dich-
tenden und bildenden Kuͤnſte zu ſeyn; und wo man das Zuſammengeflickte bemerkt, hat alle Be-
wunderung ein Ende. — Warum ließ ſichs noch kein Mahler einfallen — ein blaues Auge neben
ein braunes zu ſetzen? Und eben ſo ungereimt, als dieſes waͤre, iſt die tauſendmal vorliegende,
einem feinen phyſiognomiſchen Auge gerade ſo unausſtehliche Ungereimtheit: — Eine Naſe von ei-
ner Venus an einen Madonakopf anzuflicken. — Ein Weltmann verſicherte mich, bloß durch ein
Naſenfutter auf der Maskerade allen ſeinen Bekannteſten unkenntlich geworden zu ſeyn. So ſehr
reſpuirt die Natur alles Fremde.
Um die Sache außer allen Zweifel zu ſetzen, nehme man z. E. tauſend genau gezeichnete
Silhouetten; klaſſifizire allervoͤrderſt bloß die Stirnen — (wie wir an ſeinem Orte zeigen werden,
daß alle wirkliche und moͤgliche Menſchenſtirnen ſich unter beſtimmte klaſſiſche Zeichen faſſen laſſen,
und daß es nicht unzaͤhlige Klaſſen giebt) Man klaſſifizire, ſage ich, bloß die Stirnen allein; dann
die Naſen allein; dann das Kinn, und lege die klaſſiſchen Zeichen von Naſen und Stirnen zuſam-
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Stirnen ſich allemal eine gewiſſe Art von Naſen finden werden, und ſo wuͤrde es bey allen uͤbrigen
Geſichts-
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/64>, abgerufen am 21.11.2024.
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