Offenbare und gewisse Wahrheit ist's -- "die Natur handelt durchaus nach Gesetzen, und "nach denselben Gesetzen. Sie hat nur Ein Urbild -- nur Ein Alphabeth für alles. Das heißt: "dieselbe Kraft, dieselbe Geistigkeit -- ist immer in einerley Gefäße, einerley Form. Zwo gleiche "Gestalten haben gleiche Kraft; je ähnlicher die Gestalt, desto ähnlicher die Kraft. Je unähnlicher "die Gestalt, desto unähnlicher die Kraft." --
Von innen heraus wirkt Eine Kraft, Ein Geist in allen Dingen -- nach der Natur der Körperlichkeit, in welcher er wirkt, und nach der Lage dieses Körpers. Daher alle Verschiedenhei- ten -- und Gleichförmigkeiten, auf die wir durchaus alle unsere Urtheile über sichtbare Dinge gründen.
Sofern also Aehnlichkeit zwischen Gestalten von Menschen und Thieren -- statt hat; so- fern hat Aehnlichkeit ihrer Natur, ihrer Empfindungen, ihrer Kräfte statt. -- Könnten wir Thier- und Menschenprofile rein genug ziehen, und mathematisch gegen einander bestimmen -- un- fehlbar würden sich daraus die wahren Verhältnisse ihrer Kräfte bestimmen lassen. Ja ich glau- be -- wenn sich der Kopf einer Bienenköniginn rasieren ließe, und man durch ein Sonnenmikroskop ihre Silhouette genau ziehen könnte, diese Silhouette sich von den Silhouetten anderer Bienen so unterscheiden würde, daß man das Königliche, das Superiöre darinn erkennen könnte. Gewiß ist dieß Königliche den übrigen Bienen sichtbar oder wahrnehmlich -- sonst würde sie nicht von allen an- dern als Königinn anerkannt, und ihre Rivallinnen würden nicht ausgestoßen werden -- Jhr Blick, bloß auf einen engen Kreiß eingeschränkt, muß dieß Mehr von Kraft wahrnehmen, den uns viel- leicht nur ein Sonnenmikroskop sichtbar machen kann. -- Wenn ihr Verhältniß zu den Umrissen gemeiner Bienenköpfe genauer angegeben werden könnte, ließe sich vielleicht eine allgemeine Königs- linie finden, eine Chifer ins große Alphabeth der Physiognomik, die immer Obermacht über sei- nes gleichen anzeigte -- und aus der sich vielleicht eine Grundlinie zur allgemeinsten Physiogno-
mik
I. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment. Menſchen und Thiere.
Noch ein Wort uͤber Menſchen- und Thiergeſichter.
Offenbare und gewiſſe Wahrheit iſt’s — „die Natur handelt durchaus nach Geſetzen, und „nach denſelben Geſetzen. Sie hat nur Ein Urbild — nur Ein Alphabeth fuͤr alles. Das heißt: „dieſelbe Kraft, dieſelbe Geiſtigkeit — iſt immer in einerley Gefaͤße, einerley Form. Zwo gleiche „Geſtalten haben gleiche Kraft; je aͤhnlicher die Geſtalt, deſto aͤhnlicher die Kraft. Je unaͤhnlicher „die Geſtalt, deſto unaͤhnlicher die Kraft.“ —
Von innen heraus wirkt Eine Kraft, Ein Geiſt in allen Dingen — nach der Natur der Koͤrperlichkeit, in welcher er wirkt, und nach der Lage dieſes Koͤrpers. Daher alle Verſchiedenhei- ten — und Gleichfoͤrmigkeiten, auf die wir durchaus alle unſere Urtheile uͤber ſichtbare Dinge gruͤnden.
Sofern alſo Aehnlichkeit zwiſchen Geſtalten von Menſchen und Thieren — ſtatt hat; ſo- fern hat Aehnlichkeit ihrer Natur, ihrer Empfindungen, ihrer Kraͤfte ſtatt. — Koͤnnten wir Thier- und Menſchenprofile rein genug ziehen, und mathematiſch gegen einander beſtimmen — un- fehlbar wuͤrden ſich daraus die wahren Verhaͤltniſſe ihrer Kraͤfte beſtimmen laſſen. Ja ich glau- be — wenn ſich der Kopf einer Bienenkoͤniginn raſieren ließe, und man durch ein Sonnenmikroſkop ihre Silhouette genau ziehen koͤnnte, dieſe Silhouette ſich von den Silhouetten anderer Bienen ſo unterſcheiden wuͤrde, daß man das Koͤnigliche, das Superioͤre darinn erkennen koͤnnte. Gewiß iſt dieß Koͤnigliche den uͤbrigen Bienen ſichtbar oder wahrnehmlich — ſonſt wuͤrde ſie nicht von allen an- dern als Koͤniginn anerkannt, und ihre Rivallinnen wuͤrden nicht ausgeſtoßen werden — Jhr Blick, bloß auf einen engen Kreiß eingeſchraͤnkt, muß dieß Mehr von Kraft wahrnehmen, den uns viel- leicht nur ein Sonnenmikroſkop ſichtbar machen kann. — Wenn ihr Verhaͤltniß zu den Umriſſen gemeiner Bienenkoͤpfe genauer angegeben werden koͤnnte, ließe ſich vielleicht eine allgemeine Koͤnigs- linie finden, eine Chifer ins große Alphabeth der Phyſiognomik, die immer Obermacht uͤber ſei- nes gleichen anzeigte — und aus der ſich vielleicht eine Grundlinie zur allgemeinſten Phyſiogno-
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I. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Menſchen und Thiere.
Noch ein Wort uͤber Menſchen- und Thiergeſichter.
Offenbare und gewiſſe Wahrheit iſt’s — „die Natur handelt durchaus nach Geſetzen, und
„nach denſelben Geſetzen. Sie hat nur Ein Urbild — nur Ein Alphabeth fuͤr alles. Das heißt:
„dieſelbe Kraft, dieſelbe Geiſtigkeit — iſt immer in einerley Gefaͤße, einerley Form. Zwo gleiche
„Geſtalten haben gleiche Kraft; je aͤhnlicher die Geſtalt, deſto aͤhnlicher die Kraft. Je unaͤhnlicher
„die Geſtalt, deſto unaͤhnlicher die Kraft.“ —
Von innen heraus wirkt Eine Kraft, Ein Geiſt in allen Dingen — nach der Natur der
Koͤrperlichkeit, in welcher er wirkt, und nach der Lage dieſes Koͤrpers. Daher alle Verſchiedenhei-
ten — und Gleichfoͤrmigkeiten, auf die wir durchaus alle unſere Urtheile uͤber ſichtbare Dinge
gruͤnden.
Sofern alſo Aehnlichkeit zwiſchen Geſtalten von Menſchen und Thieren — ſtatt hat; ſo-
fern hat Aehnlichkeit ihrer Natur, ihrer Empfindungen, ihrer Kraͤfte ſtatt. — Koͤnnten wir
Thier- und Menſchenprofile rein genug ziehen, und mathematiſch gegen einander beſtimmen — un-
fehlbar wuͤrden ſich daraus die wahren Verhaͤltniſſe ihrer Kraͤfte beſtimmen laſſen. Ja ich glau-
be — wenn ſich der Kopf einer Bienenkoͤniginn raſieren ließe, und man durch ein Sonnenmikroſkop
ihre Silhouette genau ziehen koͤnnte, dieſe Silhouette ſich von den Silhouetten anderer Bienen ſo
unterſcheiden wuͤrde, daß man das Koͤnigliche, das Superioͤre darinn erkennen koͤnnte. Gewiß iſt dieß
Koͤnigliche den uͤbrigen Bienen ſichtbar oder wahrnehmlich — ſonſt wuͤrde ſie nicht von allen an-
dern als Koͤniginn anerkannt, und ihre Rivallinnen wuͤrden nicht ausgeſtoßen werden — Jhr Blick,
bloß auf einen engen Kreiß eingeſchraͤnkt, muß dieß Mehr von Kraft wahrnehmen, den uns viel-
leicht nur ein Sonnenmikroſkop ſichtbar machen kann. — Wenn ihr Verhaͤltniß zu den Umriſſen
gemeiner Bienenkoͤpfe genauer angegeben werden koͤnnte, ließe ſich vielleicht eine allgemeine Koͤnigs-
linie finden, eine Chifer ins große Alphabeth der Phyſiognomik, die immer Obermacht uͤber ſei-
nes gleichen anzeigte — und aus der ſich vielleicht eine Grundlinie zur allgemeinſten Phyſiogno-
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/80>, abgerufen am 21.11.2024.
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