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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Wie matt verläuft die erste Strophe, und wie kraftvoll und wirksam ple_098.002
steigert sich die zweite! Und doch ist jene bei weitem die inhaltsreichere ple_098.003
und die sechs ersten Zeilen der anderen drücken nichts aus, als was nachher ple_098.004
mit den einfachen Worten: "Er sieht das Kreuz" gesagt wird.

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Lehrreich ist es, mit der Stanze die nahverwandte Form der Siziliane ple_098.006
zu vergleichen. Hier nämlich, wo im letzten Zeilenpaar die gleichen Reime ple_098.007
wie in den drei ersten wiederkehren, fehlt der Abschluß nach der Steigerung; ple_098.008
das Ganze bleibt für unser Gefühl in der Schwebe und klingt in ple_098.009
eine gewisse Monotonie aus. Daher ist die Strophe denn besonders geeignet, ple_098.010
eintönige, dauernde Eindrücke oder Stimmungen wiederzugeben. ple_098.011
Man höre Rückert: ple_098.012

Hier, wo nicht Nachtigallenmelodien ple_098.013
Aus quellgetränkten Frühlingsbüschen schallen, ple_098.014
Wo schwellend nur des Meeres Möven fliehn, ple_098.015
Und drunterhin die schäum'gen Wogen schwallen, ple_098.016
Ruh' ich an meerhauchfeuchtem Rosmarin ple_098.017
Und hör' im Wind und in der Woge Wallen ple_098.018
Ein Lied eintöniger Melancholien, ple_098.019
Dazwischen fernher teure Namen hallen.

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Unter den zeitgenössischen Dichtern hat besonders Detlef von Liliencron ple_098.021
die Siziliane gern und mit feinem Gefühl für ihren wahren Charakter ple_098.022
gebildet. So in der humoristischen Strophe: ple_098.023
Sphinx in Rosen. ple_098.024

Aus weißem Stein geformt, im Junigarten, ple_098.025
Liegt eine Sphinx, die greulichste der Katzen. ple_098.026
Es küssen ihr die zierlichsten Standarten, ple_098.027
Zwei Rosen, windgeschaukelt, leicht die Tatzen. ple_098.028
Das Untier schweigt, die Lippen offenbarten, ple_098.029
Wie schon zu Ramses' Zeiten, leere Fratzen. ple_098.030
Und schweigt, und schweigt und läßt auf Antwort warten, -- ple_098.031
Im stillen Garten schwatzen nur die Spatzen.

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Die ausgesprochene metrische Eigenart des Sonetts wirkt mit der gleichen ple_098.033
Entschiedenheit auf den architektonischen Aufbau und den Charakter des ple_098.034
Gedichts. Man lese die Charakteristik, die A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen ple_098.035
1803/1804 von dieser Dichtungsform gibt.1) "Man sieht leicht ein, ple_098.036
daß durch so feste Verhältnisse, eine so bestimmte Gliederung das Sonett ple_098.037
gewaltig aus den Regionen der schwebenden Empfindung in das Gebiet ple_098.038
des entschiedenen Gedankens gezogen wird. Dadurch ist es unstreitig für ple_098.039
manche Freunde des melodischen Hin- und Herwiegens in weichen Gefühlen, ple_098.040
welche eine solche Herrschaft des Gemüts über seine eigene, es

1) ple_098.041
Abgedruckt bei Welti, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung. Leipzig ple_098.042
1884. S. 249 ff.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/112>, abgerufen am 22.11.2024.