Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_099.001 ple_099.015 ple_099.001 ple_099.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0113" n="99"/><lb n="ple_099.001"/> ganz erfüllende Bewegung nicht begreifen noch dulden mögen, abschreckend <lb n="ple_099.002"/> geworden. Im Sonett hingegen ist aller unbestimmte Fortgang abgeschnitten: <lb n="ple_099.003"/> es ist eine in sich zurückgekehrte, vollständige und organisch artikulierte <lb n="ple_099.004"/> Form. Deswegen steht es auf dem Übergang vom Lyrischen und Didaktischen, <lb n="ple_099.005"/> daher erkläre man sich's, daß es zuweilen ganz epigrammatisch <lb n="ple_099.006"/> wird und werden darf. Auf der anderen Seite sieht man auch im Sonett <lb n="ple_099.007"/> den Typus der dramatischen Gattung ausgedrückt: die drei Teile des <lb n="ple_099.008"/> Dramas, Exposition, Fortgang und Katastrophe, scheiden sich ganz deutlich. <lb n="ple_099.009"/> Durch die gebundene Beschränkung wird das Sonett nun ganz besonders <lb n="ple_099.010"/> bestimmt, ein Gipfel in der Konzentration zu sein.“ In der Tat ist ein <lb n="ple_099.011"/> Sonett, das nur Ausdruck von Stimmung und Gefühlen ohne jedes schärfer <lb n="ple_099.012"/> zugespitzte Gedankenelement wäre, nicht wohl denkbar. Man vergleiche <lb n="ple_099.013"/> nur Goethes Sonette an Minna Herzlieb mit seinen sonstigen Liebesgedichten <lb n="ple_099.014"/> und man wird den Unterschied sofort empfinden.</p> <p><lb n="ple_099.015"/> Auch die orientalischen Gedichtformen, die seit Goethes westöstlichem <lb n="ple_099.016"/> Divan durch Rückerts und Platens Einfluß in die deutsche Dichtung eingedrungen <lb n="ple_099.017"/> sind, besonders die Ghasele, zeigen einen ähnlichen Einfluß. <lb n="ple_099.018"/> Das <hi rendition="#g">Ghasel</hi> ist weit freier gebaut als die romanischen Strophen; es reiht <lb n="ple_099.019"/> einfach Distichen aneinander, die durch den gleichen Reim der zweiten <lb n="ple_099.020"/> Zeile verbunden sind, und kann somit zu beliebiger Länge ausgedehnt <lb n="ple_099.021"/> werden. Diese lockere Dehnbarkeit gestattet dem Dichter Einfall an Einfall <lb n="ple_099.022"/> zu knüpfen, und oft genug wird hier der Reim nicht nur der Führer <lb n="ple_099.023"/> für die einzelne Wendung, sondern auch für den Gedankengang selbst: <lb n="ple_099.024"/> auch hier liegt dann wie in jenen italienischen Formen das Spiel mit <lb n="ple_099.025"/> Worten und Bildern nahe. Daher eignet sich das Ghasel im allgemeinen <lb n="ple_099.026"/> nicht dazu, einen streng geschlossenen Gedankengang zum Ausdruck zu <lb n="ple_099.027"/> bringen, wiewohl Rückert in einigen prächtig erhabenen oder tief innigen <lb n="ple_099.028"/> „Hymnen“, und Platen in einigen ernsten, reflektierenden Gedichten <lb n="ple_099.029"/> auch diese widerstrebende Aufgabe gelöst haben. Zumeist aber reihen <lb n="ple_099.030"/> die Ghasele in loser Verschlingung Bilder für denselben Gedanken aneinander, <lb n="ple_099.031"/> sei es in leidenschaftlicher Widerholung und Steigerung erotischer <lb n="ple_099.032"/> Gefühle, sei es, wie namentlich bei Platen und seinem späten Nachahmer <lb n="ple_099.033"/> Bodenstedt, in einer graziösen Mischung von Ernst und Scherz; zuweilen <lb n="ple_099.034"/> erscheinen sie ganz und gar als anmutiges Spiel mit einem an sich unbedeutenden <lb n="ple_099.035"/> Gedanken. Den Einfluß der Form auf die Erfindung mögen <lb n="ple_099.036"/> zwei kleinere Ghasele Platens, die zu den besten ihrer Art gehören, veranschaulichen. <lb n="ple_099.037"/> <lb n="ple_099.038"/> <hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">1.</hi></hi> <lb n="ple_099.039"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Der Strom, der neben mir verrauschte, wo ist er nun?</l><lb n="ple_099.040"/><l>Der Vogel, dessen Lied ich lauschte, wo ist er nun?</l><lb n="ple_099.041"/><l>Wo ist die Rose, die die Freundin am Herzen trug,</l><lb n="ple_099.042"/><l>Und jener Kuß, der mich berauschte, wo ist er nun?</l><lb n="ple_099.043"/><l>Und jener Mensch, der ich gewesen und den ich längst</l><lb n="ple_099.044"/><l>Mit einem andern Ich vertauschte, wo ist er nun?</l></lg></hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [99/0113]
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ganz erfüllende Bewegung nicht begreifen noch dulden mögen, abschreckend ple_099.002
geworden. Im Sonett hingegen ist aller unbestimmte Fortgang abgeschnitten: ple_099.003
es ist eine in sich zurückgekehrte, vollständige und organisch artikulierte ple_099.004
Form. Deswegen steht es auf dem Übergang vom Lyrischen und Didaktischen, ple_099.005
daher erkläre man sich's, daß es zuweilen ganz epigrammatisch ple_099.006
wird und werden darf. Auf der anderen Seite sieht man auch im Sonett ple_099.007
den Typus der dramatischen Gattung ausgedrückt: die drei Teile des ple_099.008
Dramas, Exposition, Fortgang und Katastrophe, scheiden sich ganz deutlich. ple_099.009
Durch die gebundene Beschränkung wird das Sonett nun ganz besonders ple_099.010
bestimmt, ein Gipfel in der Konzentration zu sein.“ In der Tat ist ein ple_099.011
Sonett, das nur Ausdruck von Stimmung und Gefühlen ohne jedes schärfer ple_099.012
zugespitzte Gedankenelement wäre, nicht wohl denkbar. Man vergleiche ple_099.013
nur Goethes Sonette an Minna Herzlieb mit seinen sonstigen Liebesgedichten ple_099.014
und man wird den Unterschied sofort empfinden.
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Auch die orientalischen Gedichtformen, die seit Goethes westöstlichem ple_099.016
Divan durch Rückerts und Platens Einfluß in die deutsche Dichtung eingedrungen ple_099.017
sind, besonders die Ghasele, zeigen einen ähnlichen Einfluß. ple_099.018
Das Ghasel ist weit freier gebaut als die romanischen Strophen; es reiht ple_099.019
einfach Distichen aneinander, die durch den gleichen Reim der zweiten ple_099.020
Zeile verbunden sind, und kann somit zu beliebiger Länge ausgedehnt ple_099.021
werden. Diese lockere Dehnbarkeit gestattet dem Dichter Einfall an Einfall ple_099.022
zu knüpfen, und oft genug wird hier der Reim nicht nur der Führer ple_099.023
für die einzelne Wendung, sondern auch für den Gedankengang selbst: ple_099.024
auch hier liegt dann wie in jenen italienischen Formen das Spiel mit ple_099.025
Worten und Bildern nahe. Daher eignet sich das Ghasel im allgemeinen ple_099.026
nicht dazu, einen streng geschlossenen Gedankengang zum Ausdruck zu ple_099.027
bringen, wiewohl Rückert in einigen prächtig erhabenen oder tief innigen ple_099.028
„Hymnen“, und Platen in einigen ernsten, reflektierenden Gedichten ple_099.029
auch diese widerstrebende Aufgabe gelöst haben. Zumeist aber reihen ple_099.030
die Ghasele in loser Verschlingung Bilder für denselben Gedanken aneinander, ple_099.031
sei es in leidenschaftlicher Widerholung und Steigerung erotischer ple_099.032
Gefühle, sei es, wie namentlich bei Platen und seinem späten Nachahmer ple_099.033
Bodenstedt, in einer graziösen Mischung von Ernst und Scherz; zuweilen ple_099.034
erscheinen sie ganz und gar als anmutiges Spiel mit einem an sich unbedeutenden ple_099.035
Gedanken. Den Einfluß der Form auf die Erfindung mögen ple_099.036
zwei kleinere Ghasele Platens, die zu den besten ihrer Art gehören, veranschaulichen. ple_099.037
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1. ple_099.039
Der Strom, der neben mir verrauschte, wo ist er nun? ple_099.040
Der Vogel, dessen Lied ich lauschte, wo ist er nun? ple_099.041
Wo ist die Rose, die die Freundin am Herzen trug, ple_099.042
Und jener Kuß, der mich berauschte, wo ist er nun? ple_099.043
Und jener Mensch, der ich gewesen und den ich längst ple_099.044
Mit einem andern Ich vertauschte, wo ist er nun?
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