Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_100.001 ple_100.016 ple_100.029 1) ple_100.109
Eine eingehende Studie darüber enthält Viehoffs Poetik S. 267-280. ple_100.001 ple_100.016 ple_100.029 1) ple_100.109
Eine eingehende Studie darüber enthält Viehoffs Poetik S. 267–280. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <pb facs="#f0114" n="100"/> <lb n="ple_100.001"/> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#aq">2.</hi> </hi> <lb n="ple_100.002"/> <hi rendition="#aq"> <lg> <l>Farbenstäubchen auf der Schwinge</l> <lb n="ple_100.003"/> <l>Sommerlicher Schmetterlinge,</l> <lb n="ple_100.004"/> <l>Flüchtig sind sie, sind vergänglich</l> <lb n="ple_100.005"/> <l>Wie die Gaben, die ich bringe,</l> <lb n="ple_100.006"/> <l>Wie die Kränze, die ich flechte,</l> <lb n="ple_100.007"/> <l>Wie die Lieder, die ich singe:</l> <lb n="ple_100.008"/> <l>Schnell vorüber schweben alle,</l> <lb n="ple_100.009"/> <l>Ihre Dauer ist geringe,</l> <lb n="ple_100.010"/> <l>Wie ein Schaum auf schwanker Welle,</l> <lb n="ple_100.011"/> <l>Wie ein Hauch auf blanker Klinge.</l> <lb n="ple_100.012"/> <l>Nicht Unsterblichkeit verlang' ich,</l> <lb n="ple_100.013"/> <l>Sterben ist das Los der Dinge:</l> <lb n="ple_100.014"/> <l>Meine Töne sind zerbrechlich</l> <lb n="ple_100.015"/> <l>Wie das Glas, an das ich klinge.</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_100.016"/> In solchen Gedichten also trägt die metrische und strophische Form <lb n="ple_100.017"/> den Dichter und seine Gedanken; sie selbst bringt Gegensatz und Steigerung <lb n="ple_100.018"/> hervor und lenkt die Stimmung. So kommt hier gleichsam von <lb n="ple_100.019"/> außen her ein Zusammenklang von Form und Inhalt zustande. Aber die <lb n="ple_100.020"/> künstlerische Entwicklung kann nun auch den umgekehrten Weg nehmen, <lb n="ple_100.021"/> und unserem deutschen Empfinden erscheint dies als das natürliche: <lb n="ple_100.022"/> der Inhalt des Gedichts sucht seinen Ausdruck in der Form. Hier nun <lb n="ple_100.023"/> aber ist es zunächst nicht der Rhythmus, der sich vielmehr als das sprödere <lb n="ple_100.024"/> und selbständigere Element erst später dem Geist der Dichtung beugt, <lb n="ple_100.025"/> sondern der Klang an sich, welcher zum Ausdruck der Stimmung wird. <lb n="ple_100.026"/> Vokale und Konsonanten leihen dem Dichter die Farben für charakteristische <lb n="ple_100.027"/> Tongemälde,<note xml:id="ple_100_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_100.109"/> Eine eingehende Studie darüber enthält Viehoffs Poetik S. 267–280.</note> Reime und Stabreime verstärken und entscheiden <lb n="ple_100.028"/> den Charakter.</p> <p><lb n="ple_100.029"/> In der deutschen Literatur tritt uns zum erstenmal bei Gottfried von <lb n="ple_100.030"/> Straßburg die Kunst der Stimmungsmalerei durch den Klang entgegen. Die <lb n="ple_100.031"/> leicht geschürzten kurzen Reimpaare bilden hier nur die Unterlage, auf der <lb n="ple_100.032"/> sich in leuchtender Farbenpracht die melodischen Töne abheben. Aber <lb n="ple_100.033"/> ihr Wohlklang ist nicht oder doch nicht immer Zweck an sich, sondern er <lb n="ple_100.034"/> bezeichnet und charakterisiert vielfach den Inhalt. Man höre die Schilderung <lb n="ple_100.035"/> der Frühlingsaue, auf der das Pfingstfest König Markes stattfindet: <lb n="ple_100.036"/> <cb type="start"/><hi rendition="#aq"><lg><l>Diu senfte süeze sumerzît</l><lb n="ple_100.037"/><l>diu hete ir süeze unmüezekeit</l><lb n="ple_100.038"/><l>mit süezem flîze an sî geleit.<lb/> — — — — — — — — —</l><lb n="ple_100.039"/><l>man vant dâ, swaz man wolte,</l><lb n="ple_100.040"/><l>daz der meie bringen solte:</l><lb n="ple_100.041"/><l>den schate bî der sunnen,</l><lb n="ple_100.042"/><l>die linde bî dem brunnen,</l><lb n="ple_100.043"/><l>die senften, linden winde,</l><lb n="ple_100.044"/><l>die Markes ingesinde</l></lg><cb/><lb n="ple_100.101"/><lg><l>sîn wesen engegene macheten.<lb/> — — — — — — — — —</l><lb n="ple_100.102"/><l>diu süeze boumbluot sach den man</l><lb n="ple_100.103"/><l>sô rehte suoze lachende an,</l><lb n="ple_100.104"/><l>daz sich daz herze und al der muot</l><lb n="ple_100.105"/><l>wider an die lachende bluot</l><lb n="ple_100.106"/><l>mit spilnden ougen machete</l><lb n="ple_100.107"/><l>und ir allez widerlachete.</l></lg></hi> <lb n="ple_100.108"/> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">u. s. w.</hi></hi><cb type="end"/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [100/0114]
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Farbenstäubchen auf der Schwinge ple_100.003
Sommerlicher Schmetterlinge, ple_100.004
Flüchtig sind sie, sind vergänglich ple_100.005
Wie die Gaben, die ich bringe, ple_100.006
Wie die Kränze, die ich flechte, ple_100.007
Wie die Lieder, die ich singe: ple_100.008
Schnell vorüber schweben alle, ple_100.009
Ihre Dauer ist geringe, ple_100.010
Wie ein Schaum auf schwanker Welle, ple_100.011
Wie ein Hauch auf blanker Klinge. ple_100.012
Nicht Unsterblichkeit verlang' ich, ple_100.013
Sterben ist das Los der Dinge: ple_100.014
Meine Töne sind zerbrechlich ple_100.015
Wie das Glas, an das ich klinge.
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In solchen Gedichten also trägt die metrische und strophische Form ple_100.017
den Dichter und seine Gedanken; sie selbst bringt Gegensatz und Steigerung ple_100.018
hervor und lenkt die Stimmung. So kommt hier gleichsam von ple_100.019
außen her ein Zusammenklang von Form und Inhalt zustande. Aber die ple_100.020
künstlerische Entwicklung kann nun auch den umgekehrten Weg nehmen, ple_100.021
und unserem deutschen Empfinden erscheint dies als das natürliche: ple_100.022
der Inhalt des Gedichts sucht seinen Ausdruck in der Form. Hier nun ple_100.023
aber ist es zunächst nicht der Rhythmus, der sich vielmehr als das sprödere ple_100.024
und selbständigere Element erst später dem Geist der Dichtung beugt, ple_100.025
sondern der Klang an sich, welcher zum Ausdruck der Stimmung wird. ple_100.026
Vokale und Konsonanten leihen dem Dichter die Farben für charakteristische ple_100.027
Tongemälde, 1) Reime und Stabreime verstärken und entscheiden ple_100.028
den Charakter.
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In der deutschen Literatur tritt uns zum erstenmal bei Gottfried von ple_100.030
Straßburg die Kunst der Stimmungsmalerei durch den Klang entgegen. Die ple_100.031
leicht geschürzten kurzen Reimpaare bilden hier nur die Unterlage, auf der ple_100.032
sich in leuchtender Farbenpracht die melodischen Töne abheben. Aber ple_100.033
ihr Wohlklang ist nicht oder doch nicht immer Zweck an sich, sondern er ple_100.034
bezeichnet und charakterisiert vielfach den Inhalt. Man höre die Schilderung ple_100.035
der Frühlingsaue, auf der das Pfingstfest König Markes stattfindet: ple_100.036
Diu senfte süeze sumerzît ple_100.037
diu hete ir süeze unmüezekeit ple_100.038
mit süezem flîze an sî geleit.
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daz der meie bringen solte: ple_100.041
den schate bî der sunnen, ple_100.042
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die senften, linden winde, ple_100.044
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sîn wesen engegene macheten.
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diu süeze boumbluot sach den man ple_100.103
sô rehte suoze lachende an, ple_100.104
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und ir allez widerlachete.
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Eine eingehende Studie darüber enthält Viehoffs Poetik S. 267–280.
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