Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_101.001
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ple_101.031 ple_101.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0115" n="101"/> <p><lb n="ple_101.001"/> Diese Kunst der Lautcharakteristik ist in der mittelhochdeutschen <lb n="ple_101.002"/> Literatur nicht wieder erreicht; sie bleibt so gut wie vereinzelt. Nur in <lb n="ple_101.003"/> einer Anzahl von Liedern Walthers herrscht die gleiche Harmonie von <lb n="ple_101.004"/> Klang und Stimmung, von Form und Inhalt. Die Reimkunststücke <lb n="ple_101.005"/> Konrads von Würzburg dagegen sind bloße Formspielereien ohne charakteristische <lb n="ple_101.006"/> oder überhaupt inhaltliche Beziehungen. Überhaupt ergeht sich <lb n="ple_101.007"/> der spätere Minnesang, wie schon oben bemerkt, in kunstvollen Spielen <lb n="ple_101.008"/> mit Klang und Reim ohne Rücksicht auf Inhalt und Stimmungsausdruck. <lb n="ple_101.009"/> In den Zeiten des verwilderten Formengefühls oder der ihnen folgenden <lb n="ple_101.010"/> der unselbständigen Anlehnung an romanische Muster wird niemand erwarten, <lb n="ple_101.011"/> die Vers- und Klangkunst Walthers oder Gottfrieds erneuert zu <lb n="ple_101.012"/> sehen. Ganz ausgestorben scheint freilich die Neigung zur Lautmalerei <lb n="ple_101.013"/> und das Gefühl für ihre Mittel niemals gewesen zu sein: im 17. Jahrhundert <lb n="ple_101.014"/> wenigstens finden wir beides gelegentlich auftauchend, am deutlichsten <lb n="ple_101.015"/> in einer Anzahl niederdeutscher Gedichte. Aber erst seitdem <lb n="ple_101.016"/> Klopstocks musikalisches Genie die deutsche Dichtersprache zu neuem <lb n="ple_101.017"/> Wohlklang erweckte, gelangten auch die alten Mittel der musikalischen <lb n="ple_101.018"/> Charakteristik wiederum zu tiefgreifender und allgemeiner Wirkung.</p> <lb n="ple_101.019"/> <p> <hi rendition="#aq"> <lg> <l>„Komm und lehre mein Lied jugendlich heiter sein,</l> <lb n="ple_101.020"/> <l>Süße Freude, wie du, gleich dem beseelteren</l> <lb n="ple_101.021"/> <l>Schnellen Jauchzen des Jünglings,</l> <lb n="ple_101.022"/> <l>Sanft, der fühlenden Fanny gleich!<lb/> — — — — — — — — — — —</l> </lg> <lg> <lb n="ple_101.023"/> <l>Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen,</l> <lb n="ple_101.024"/> <l>In den Lüften des Walds und mit gesenktem Blick</l> <lb n="ple_101.025"/> <l>Auf die silberne Welle,</l> <lb n="ple_101.026"/> <l>Tat ich schweigend den frommen Wunsch: </l> </lg> <lg> <lb n="ple_101.027"/> <l>„Wäret ihr auch bei uns, die ihr mich ferne liebt,</l> <lb n="ple_101.028"/> <l>In des Vaterlands Schoß einsam von mir verstreut,</l> <lb n="ple_101.029"/> <l>Die in seligen Stunden</l> <lb n="ple_101.030"/> <l>Meine suchende Seele fand.“</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_101.031"/> Solche Strophen riefen begreiflicherweise die Begeisterung des jungen <lb n="ple_101.032"/> künstlerisch veranlagten Geschlechts hervor, das den Dichter als Vorbild <lb n="ple_101.033"/> verehrte. Sie bedeuten eine Epoche in der Geschichte der dichterischen <lb n="ple_101.034"/> Form.</p> <p><lb n="ple_101.035"/> Derjenige seiner Nachfolger, der die Klangmalerei am entschiedensten <lb n="ple_101.036"/> zum charakteristischen Ausdruck der Situation und Stimmung gesteigert <lb n="ple_101.037"/> hat, ist bekanntlich Bürger. Er verfügt über die größte Reihe starker, <lb n="ple_101.038"/> zum Teil freilich auch grober Mittel der Lautmalerei. Onomatopoetische <lb n="ple_101.039"/> Wortbildungen, Interjektionen und direkte Schallnachahmungen verwendet <lb n="ple_101.040"/> er skrupellos zu seinem Zweck. Mit „Horrido und Hussassa“ und „Hurre <lb n="ple_101.041"/> hurre hopp hopp hopp“ füllt er ganze Zeilen. Goethe ist viel vornehmer <lb n="ple_101.042"/> in der Verwendung der Klangmittel als Bürger und erreicht gleichwohl <lb n="ple_101.043"/> nicht minder tiefe Wirkung. Schallnachahmungen und Interjektionen vermeidet </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [101/0115]
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Diese Kunst der Lautcharakteristik ist in der mittelhochdeutschen ple_101.002
Literatur nicht wieder erreicht; sie bleibt so gut wie vereinzelt. Nur in ple_101.003
einer Anzahl von Liedern Walthers herrscht die gleiche Harmonie von ple_101.004
Klang und Stimmung, von Form und Inhalt. Die Reimkunststücke ple_101.005
Konrads von Würzburg dagegen sind bloße Formspielereien ohne charakteristische ple_101.006
oder überhaupt inhaltliche Beziehungen. Überhaupt ergeht sich ple_101.007
der spätere Minnesang, wie schon oben bemerkt, in kunstvollen Spielen ple_101.008
mit Klang und Reim ohne Rücksicht auf Inhalt und Stimmungsausdruck. ple_101.009
In den Zeiten des verwilderten Formengefühls oder der ihnen folgenden ple_101.010
der unselbständigen Anlehnung an romanische Muster wird niemand erwarten, ple_101.011
die Vers- und Klangkunst Walthers oder Gottfrieds erneuert zu ple_101.012
sehen. Ganz ausgestorben scheint freilich die Neigung zur Lautmalerei ple_101.013
und das Gefühl für ihre Mittel niemals gewesen zu sein: im 17. Jahrhundert ple_101.014
wenigstens finden wir beides gelegentlich auftauchend, am deutlichsten ple_101.015
in einer Anzahl niederdeutscher Gedichte. Aber erst seitdem ple_101.016
Klopstocks musikalisches Genie die deutsche Dichtersprache zu neuem ple_101.017
Wohlklang erweckte, gelangten auch die alten Mittel der musikalischen ple_101.018
Charakteristik wiederum zu tiefgreifender und allgemeiner Wirkung.
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„Komm und lehre mein Lied jugendlich heiter sein, ple_101.020
Süße Freude, wie du, gleich dem beseelteren ple_101.021
Schnellen Jauchzen des Jünglings, ple_101.022
Sanft, der fühlenden Fanny gleich!
— — — — — — — — — — —
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Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen, ple_101.024
In den Lüften des Walds und mit gesenktem Blick ple_101.025
Auf die silberne Welle, ple_101.026
Tat ich schweigend den frommen Wunsch:
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„Wäret ihr auch bei uns, die ihr mich ferne liebt, ple_101.028
In des Vaterlands Schoß einsam von mir verstreut, ple_101.029
Die in seligen Stunden ple_101.030
Meine suchende Seele fand.“
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Solche Strophen riefen begreiflicherweise die Begeisterung des jungen ple_101.032
künstlerisch veranlagten Geschlechts hervor, das den Dichter als Vorbild ple_101.033
verehrte. Sie bedeuten eine Epoche in der Geschichte der dichterischen ple_101.034
Form.
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Derjenige seiner Nachfolger, der die Klangmalerei am entschiedensten ple_101.036
zum charakteristischen Ausdruck der Situation und Stimmung gesteigert ple_101.037
hat, ist bekanntlich Bürger. Er verfügt über die größte Reihe starker, ple_101.038
zum Teil freilich auch grober Mittel der Lautmalerei. Onomatopoetische ple_101.039
Wortbildungen, Interjektionen und direkte Schallnachahmungen verwendet ple_101.040
er skrupellos zu seinem Zweck. Mit „Horrido und Hussassa“ und „Hurre ple_101.041
hurre hopp hopp hopp“ füllt er ganze Zeilen. Goethe ist viel vornehmer ple_101.042
in der Verwendung der Klangmittel als Bürger und erreicht gleichwohl ple_101.043
nicht minder tiefe Wirkung. Schallnachahmungen und Interjektionen vermeidet
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