Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_113.001 ple_113.009 ple_113.038 1) ple_113.040
Daher ist Gustav Freytags Ausdruck "Fallende (sinkende) Handlung" (Technik ple_113.041 des Dramas10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite ple_113.042 Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet. ple_113.001 ple_113.009 ple_113.038 1) ple_113.040
Daher ist Gustav Freytags Ausdruck „Fallende (sinkende) Handlung“ (Technik ple_113.041 des Dramas10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite ple_113.042 Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0127" n="113"/><lb n="ple_113.001"/> meisten der Schluß des Wallensteins, wo der ahnungslose Held all den <lb n="ple_113.002"/> Warnungsstimmen Hohn spricht, denen er früher nur zu oft und lange gelauscht <lb n="ple_113.003"/> hat; tief ergreifend wirkt es auch, wenn in der Braut von Messina <lb n="ple_113.004"/> die Fürstin-Mutter in dem Augenblick, wo sich alles zur Katastrophe ihres <lb n="ple_113.005"/> Hauses zusammenzieht, mit stolzer Überhebung die Worte der Niobe ausruft: <lb n="ple_113.006"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Lebt irgend eine</l><lb n="ple_113.007"/><l>Von allen Weibern, die geboren haben,</l><lb n="ple_113.008"/><l>Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleiche?</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_113.009"/> Aber selbst die Kontrastwirkung würde, wenn sie sich stets in gleichen <lb n="ple_113.010"/> Formen erneuerte oder in ähnlichen wiederholte, nicht vor Ermüdung <lb n="ple_113.011"/> schützen. Denn nach einem psychologischen Gesetz, das nicht minder unabänderlich <lb n="ple_113.012"/> ist wie das des Kontrastes selbst, stumpft sich auf die Dauer <lb n="ple_113.013"/> jede Wirkung ab, wird mit der Erneuerung schwächer und verflüchtigt sich <lb n="ple_113.014"/> endlich ganz. Daher bedarf jedes größere Gedicht als eines weiteren <lb n="ple_113.015"/> wesentlichen Kunstmittels der <hi rendition="#g">Steigerung,</hi> ja, man kann sagen, daß hierin <lb n="ple_113.016"/> das eigentlich herrschende Prinzip für den Aufbau einer Dichtung liegt. <lb n="ple_113.017"/> Auch dieses tritt in den verschiedenen Gattungen auf verschiedene Weise <lb n="ple_113.018"/> hervor: in der Lyrik als Erhöhung oder auch Vertiefung der subjektiven Stimmung <lb n="ple_113.019"/> — man denke an Klopstocks Frühlingsfeier, an Mahomets Gesang —, <lb n="ple_113.020"/> im Epos und Drama als Steigerung der dargestellten Affekte und Erhöhung <lb n="ple_113.021"/> der Spannung auf den weiteren Ablauf der Handlung. Besonders deutliche <lb n="ple_113.022"/> Beispiele sind das Wachsen der Eifersucht in Shakespeares Othello, der <lb n="ple_113.023"/> beginnende und zunehmende Wahnsinn im Lear. In jedem Drama muß <lb n="ple_113.024"/> sich der Affekt bis zum Eintritt der Katastrophe steigern, wie denn in jeder <lb n="ple_113.025"/> Tragödie die Gefahr für den Helden beständig zunimmt und Furcht und <lb n="ple_113.026"/> Mitleid des Zuschauers dementsprechend wachsen.<note xml:id="ple_113_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_113.040"/> Daher ist Gustav Freytags Ausdruck „Fallende (sinkende) Handlung“ (Technik <lb n="ple_113.041"/> des Dramas<hi rendition="#sup">10</hi> S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite <lb n="ple_113.042"/> Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet.</note> In allen Gattungen <lb n="ple_113.027"/> sind es zumeist die der Entwicklung zugrunde liegenden Gegensätze selbst, <lb n="ple_113.028"/> durch deren schärferes und entschiedeneres Hervortreten die Steigerung <lb n="ple_113.029"/> herbeigeführt wird. Anschauliche Beispiele dieser Kontraststeigerung sind <lb n="ple_113.030"/> auf lyrischem Gebiete Goethes „Trost in Tränen“, Heines „Gestrandet“, <lb n="ple_113.031"/> auf dramatischem und epischem Kleists Penthesilea und die meisten Novellen <lb n="ple_113.032"/> desselben Dichters, der seinem Naturell nach besonders zu starken <lb n="ple_113.033"/> Kontrastwirkungen neigt. Besonders wirksam werden in der Ballade Stimmung <lb n="ple_113.034"/> und Spannung durch Wechselwirkung erhöht, so in Bürgers Leonore, <lb n="ple_113.035"/> Goethes Erlkönig und noch dramatischer in Der Gott und die Bajadere; <lb n="ple_113.036"/> auch Fontanes Archibald Douglas ist ein schönes Beispiel dichterischer <lb n="ple_113.037"/> Steigerung.</p> <p><lb n="ple_113.038"/> Aber die Steigerung bedarf eines Abschlusses, der Kontrast eines Ausgleichs, <lb n="ple_113.039"/> wenn beide eine künstlerische Wirkung zurücklassen, d. h. wenn </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [113/0127]
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meisten der Schluß des Wallensteins, wo der ahnungslose Held all den ple_113.002
Warnungsstimmen Hohn spricht, denen er früher nur zu oft und lange gelauscht ple_113.003
hat; tief ergreifend wirkt es auch, wenn in der Braut von Messina ple_113.004
die Fürstin-Mutter in dem Augenblick, wo sich alles zur Katastrophe ihres ple_113.005
Hauses zusammenzieht, mit stolzer Überhebung die Worte der Niobe ausruft: ple_113.006
Lebt irgend eine ple_113.007
Von allen Weibern, die geboren haben, ple_113.008
Die sich mit mir an Herrlichkeit vergleiche?
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Aber selbst die Kontrastwirkung würde, wenn sie sich stets in gleichen ple_113.010
Formen erneuerte oder in ähnlichen wiederholte, nicht vor Ermüdung ple_113.011
schützen. Denn nach einem psychologischen Gesetz, das nicht minder unabänderlich ple_113.012
ist wie das des Kontrastes selbst, stumpft sich auf die Dauer ple_113.013
jede Wirkung ab, wird mit der Erneuerung schwächer und verflüchtigt sich ple_113.014
endlich ganz. Daher bedarf jedes größere Gedicht als eines weiteren ple_113.015
wesentlichen Kunstmittels der Steigerung, ja, man kann sagen, daß hierin ple_113.016
das eigentlich herrschende Prinzip für den Aufbau einer Dichtung liegt. ple_113.017
Auch dieses tritt in den verschiedenen Gattungen auf verschiedene Weise ple_113.018
hervor: in der Lyrik als Erhöhung oder auch Vertiefung der subjektiven Stimmung ple_113.019
— man denke an Klopstocks Frühlingsfeier, an Mahomets Gesang —, ple_113.020
im Epos und Drama als Steigerung der dargestellten Affekte und Erhöhung ple_113.021
der Spannung auf den weiteren Ablauf der Handlung. Besonders deutliche ple_113.022
Beispiele sind das Wachsen der Eifersucht in Shakespeares Othello, der ple_113.023
beginnende und zunehmende Wahnsinn im Lear. In jedem Drama muß ple_113.024
sich der Affekt bis zum Eintritt der Katastrophe steigern, wie denn in jeder ple_113.025
Tragödie die Gefahr für den Helden beständig zunimmt und Furcht und ple_113.026
Mitleid des Zuschauers dementsprechend wachsen. 1) In allen Gattungen ple_113.027
sind es zumeist die der Entwicklung zugrunde liegenden Gegensätze selbst, ple_113.028
durch deren schärferes und entschiedeneres Hervortreten die Steigerung ple_113.029
herbeigeführt wird. Anschauliche Beispiele dieser Kontraststeigerung sind ple_113.030
auf lyrischem Gebiete Goethes „Trost in Tränen“, Heines „Gestrandet“, ple_113.031
auf dramatischem und epischem Kleists Penthesilea und die meisten Novellen ple_113.032
desselben Dichters, der seinem Naturell nach besonders zu starken ple_113.033
Kontrastwirkungen neigt. Besonders wirksam werden in der Ballade Stimmung ple_113.034
und Spannung durch Wechselwirkung erhöht, so in Bürgers Leonore, ple_113.035
Goethes Erlkönig und noch dramatischer in Der Gott und die Bajadere; ple_113.036
auch Fontanes Archibald Douglas ist ein schönes Beispiel dichterischer ple_113.037
Steigerung.
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Aber die Steigerung bedarf eines Abschlusses, der Kontrast eines Ausgleichs, ple_113.039
wenn beide eine künstlerische Wirkung zurücklassen, d. h. wenn
1) ple_113.040
Daher ist Gustav Freytags Ausdruck „Fallende (sinkende) Handlung“ (Technik ple_113.041
des Dramas10 S. 102, 116 ff.) nicht glücklich gewählt, da in Wirklichkeit auch der zweite ple_113.042
Teil der Tragödie eine beständige Steigerung bedeutet.
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