Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_114.001 ple_114.037 ple_114.001 ple_114.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0128" n="114"/><lb n="ple_114.001"/> das Gedicht als letztes Ergebnis ästhetische Lust hervorrufen soll. Diese <lb n="ple_114.002"/> Forderung aber wird man billigerweise stellen dürfen; sie liegt im Wesen <lb n="ple_114.003"/> aller Kunst begründet, und es ist daher berechtigt, wenn Fechner auf sie <lb n="ple_114.004"/> das „Prinzip der ästhetischen Versöhnung“ begründet. Da aber der Ausdruck <lb n="ple_114.005"/> <hi rendition="#g">Versöhnung</hi> immerhin ein Mißverständnis hervorrufen kann, so <lb n="ple_114.006"/> bezeichne ich das, was hier gemeint ist, lieber als <hi rendition="#g">Prinzip des Abschlusses</hi> <lb n="ple_114.007"/> und stelle es den drei vorher veranschaulichten Gesetzen der <lb n="ple_114.008"/> dichterischen Komposition als letztes zur Seite. Zwar kann es scheinen, <lb n="ple_114.009"/> als ob dieses Prinzip etwas ebenso Selbstverständliches ausspreche, wie <lb n="ple_114.010"/> das der Einheit. Denn wie diese im Wesen der künstlerischen Intention <lb n="ple_114.011"/> begründet ist, so liegt es auch in der Natur der Sache, daß sich jede Entwicklung <lb n="ple_114.012"/> auf einen bestimmten Zielpunkt richtet: wenn dieser erreicht ist, <lb n="ple_114.013"/> ist die Intention des Dichters verwirklicht und eben damit der Abschluß <lb n="ple_114.014"/> gefunden. Unzweifelhaft deutlich zeigt sich das im Epos und im Drama, <lb n="ple_114.015"/> wo man mit Recht von einem „Ziel der Handlung“ zu sprechen pflegt. <lb n="ple_114.016"/> Es wird hier immer nur ganz ausnahmsweise vorkommen, daß der Dichter <lb n="ple_114.017"/> abbricht, ehe ein solches Ziel erreicht oder wenigstens in unzweideutiger <lb n="ple_114.018"/> Aussicht ist. (In Goethes Tasso scheint es freilich der Fall zu sein, allein <lb n="ple_114.019"/> doch auch hier nur, weil der Dichter es absichtlich oder unabsichtlich <lb n="ple_114.020"/> unterlassen hat, den Zustand völliger Zerrüttung, in dem der Held am <lb n="ple_114.021"/> Schlusse erscheint, unzweideutig zu kennzeichnen; vergleiche S. 53). Aber <lb n="ple_114.022"/> nicht ebenso selbstverständlich ist das Prinzip für die Lyrik. Immerhin <lb n="ple_114.023"/> leuchtet auch hier ein, daß ein bloßes Aufhören der Steigerung, ein bloßes <lb n="ple_114.024"/> Nachlassen der Stimmung am Ende eines Gedichts unwirksam und unkünstlerisch <lb n="ple_114.025"/> ist. Die Steigerung muß zum Abschluß kommen. Dies geschieht <lb n="ple_114.026"/> am einfachsten dadurch, daß ein Höhepunkt erreicht wird, jenseits <lb n="ple_114.027"/> dessen ein weiteres Zunehmen, eine stärkere Intensität des Gefühls nicht <lb n="ple_114.028"/> möglich ist. So bei Goethe im Ganymed und in Mahomets Gesang; so, <lb n="ple_114.029"/> um einige moderne Beispiele zu nennen, viele Gedichte Konrad Ferdinand <lb n="ple_114.030"/> Meyers, der das Crescendo der Stimmung ungemein sicher handhabt: der <lb n="ple_114.031"/> Gesang des Meeres, Michel Angelo, die Ketzerin. Der künstlerische Abschluß <lb n="ple_114.032"/> kann aber auch auf die entgegengesetzte Weise erreicht werden: <lb n="ple_114.033"/> durch ein allmähliches Abschwellen oder ein plötzliches Absetzen tritt eine <lb n="ple_114.034"/> lösende Beruhigung ein. Nicht minder wirksam als das gewaltige Fortissimo, <lb n="ple_114.035"/> mit dem Mahomets Gesang schließt, ist das sanfte Piano, das den <lb n="ple_114.036"/> Schluß der Frühlingsfeier bildet, oder das Maestoso am Ende der Harzreise.</p> <p><lb n="ple_114.037"/> Wie verhält sich's nun aber da, wo Inhalt und Stimmung eines Gedichts <lb n="ple_114.038"/> durch einen deutlich hervortretenden Kontrast bestimmt werden? <lb n="ple_114.039"/> Auch hier tritt uns zunächst die fast befremdliche Tatsache entgegen, daß <lb n="ple_114.040"/> die höchstmögliche Steigerung des Kontrasts, das schärfste Hervortreten <lb n="ple_114.041"/> des Gegensatzes einen Abschluß herbeiführen kann, der im künstlerischen <lb n="ple_114.042"/> Sinne durchaus befriedigt. So in Goethes Prometheus, in Hölderlins Schicksalslied, <lb n="ple_114.043"/> in Heines „Frage“. Der Vergleich mit der Disharmonie in der </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [114/0128]
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das Gedicht als letztes Ergebnis ästhetische Lust hervorrufen soll. Diese ple_114.002
Forderung aber wird man billigerweise stellen dürfen; sie liegt im Wesen ple_114.003
aller Kunst begründet, und es ist daher berechtigt, wenn Fechner auf sie ple_114.004
das „Prinzip der ästhetischen Versöhnung“ begründet. Da aber der Ausdruck ple_114.005
Versöhnung immerhin ein Mißverständnis hervorrufen kann, so ple_114.006
bezeichne ich das, was hier gemeint ist, lieber als Prinzip des Abschlusses ple_114.007
und stelle es den drei vorher veranschaulichten Gesetzen der ple_114.008
dichterischen Komposition als letztes zur Seite. Zwar kann es scheinen, ple_114.009
als ob dieses Prinzip etwas ebenso Selbstverständliches ausspreche, wie ple_114.010
das der Einheit. Denn wie diese im Wesen der künstlerischen Intention ple_114.011
begründet ist, so liegt es auch in der Natur der Sache, daß sich jede Entwicklung ple_114.012
auf einen bestimmten Zielpunkt richtet: wenn dieser erreicht ist, ple_114.013
ist die Intention des Dichters verwirklicht und eben damit der Abschluß ple_114.014
gefunden. Unzweifelhaft deutlich zeigt sich das im Epos und im Drama, ple_114.015
wo man mit Recht von einem „Ziel der Handlung“ zu sprechen pflegt. ple_114.016
Es wird hier immer nur ganz ausnahmsweise vorkommen, daß der Dichter ple_114.017
abbricht, ehe ein solches Ziel erreicht oder wenigstens in unzweideutiger ple_114.018
Aussicht ist. (In Goethes Tasso scheint es freilich der Fall zu sein, allein ple_114.019
doch auch hier nur, weil der Dichter es absichtlich oder unabsichtlich ple_114.020
unterlassen hat, den Zustand völliger Zerrüttung, in dem der Held am ple_114.021
Schlusse erscheint, unzweideutig zu kennzeichnen; vergleiche S. 53). Aber ple_114.022
nicht ebenso selbstverständlich ist das Prinzip für die Lyrik. Immerhin ple_114.023
leuchtet auch hier ein, daß ein bloßes Aufhören der Steigerung, ein bloßes ple_114.024
Nachlassen der Stimmung am Ende eines Gedichts unwirksam und unkünstlerisch ple_114.025
ist. Die Steigerung muß zum Abschluß kommen. Dies geschieht ple_114.026
am einfachsten dadurch, daß ein Höhepunkt erreicht wird, jenseits ple_114.027
dessen ein weiteres Zunehmen, eine stärkere Intensität des Gefühls nicht ple_114.028
möglich ist. So bei Goethe im Ganymed und in Mahomets Gesang; so, ple_114.029
um einige moderne Beispiele zu nennen, viele Gedichte Konrad Ferdinand ple_114.030
Meyers, der das Crescendo der Stimmung ungemein sicher handhabt: der ple_114.031
Gesang des Meeres, Michel Angelo, die Ketzerin. Der künstlerische Abschluß ple_114.032
kann aber auch auf die entgegengesetzte Weise erreicht werden: ple_114.033
durch ein allmähliches Abschwellen oder ein plötzliches Absetzen tritt eine ple_114.034
lösende Beruhigung ein. Nicht minder wirksam als das gewaltige Fortissimo, ple_114.035
mit dem Mahomets Gesang schließt, ist das sanfte Piano, das den ple_114.036
Schluß der Frühlingsfeier bildet, oder das Maestoso am Ende der Harzreise.
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Wie verhält sich's nun aber da, wo Inhalt und Stimmung eines Gedichts ple_114.038
durch einen deutlich hervortretenden Kontrast bestimmt werden? ple_114.039
Auch hier tritt uns zunächst die fast befremdliche Tatsache entgegen, daß ple_114.040
die höchstmögliche Steigerung des Kontrasts, das schärfste Hervortreten ple_114.041
des Gegensatzes einen Abschluß herbeiführen kann, der im künstlerischen ple_114.042
Sinne durchaus befriedigt. So in Goethes Prometheus, in Hölderlins Schicksalslied, ple_114.043
in Heines „Frage“. Der Vergleich mit der Disharmonie in der
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