Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_116.001 ple_116.004 ple_116.021 1) ple_116.109
Fechner hat übersehen, daß das "Lustübergewicht", das er verlangt, nicht nur ple_116.110 durch inhaltliche Beziehungen herbeigeführt wird, sondern auch durch die ästhetische Lust ple_116.111 an der Form. Daher erklärt sich auch die schiefe Bezeichnung "Prinzip der ästhetischen ple_116.112 Versöhnung". ple_116.001 ple_116.004 ple_116.021 1) ple_116.109
Fechner hat übersehen, daß das „Lustübergewicht“, das er verlangt, nicht nur ple_116.110 durch inhaltliche Beziehungen herbeigeführt wird, sondern auch durch die ästhetische Lust ple_116.111 an der Form. Daher erklärt sich auch die schiefe Bezeichnung „Prinzip der ästhetischen ple_116.112 Versöhnung“. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0130" n="116"/><lb n="ple_116.001"/> überwiegt. Ja, mehr als das, sie wird erhöht, wenn wir empfinden, wie <lb n="ple_116.002"/> der Dichter auch Leidenschaften und Leiden zu überwinden, zu Kunstwerken <lb n="ple_116.003"/> zu gestalten weiß.<note xml:id="ple_116_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_116.109"/><hi rendition="#g">Fechner</hi> hat übersehen, daß das „Lustübergewicht“, das er verlangt, nicht nur <lb n="ple_116.110"/> durch inhaltliche Beziehungen herbeigeführt wird, sondern auch durch die ästhetische Lust <lb n="ple_116.111"/> an der Form. Daher erklärt sich auch die schiefe Bezeichnung „Prinzip der ästhetischen <lb n="ple_116.112"/> Versöhnung“.</note> </p> <p><lb n="ple_116.004"/> Freilich das eben Gesagte gilt, wie die Erfahrung zeigt, nur von lyrischen <lb n="ple_116.005"/> Gedichten und zwar wesentlich von solchen kleineren Umfangs, die <lb n="ple_116.006"/> nichts weiter wollen, als eine gegebene Stimmung durchführen, und die <lb n="ple_116.007"/> keinen eigentlichen Fortschritt des Gedankens oder der Stimmung enthalten. <lb n="ple_116.008"/> Bei allen größeren Dichtungen aber, bei allen denen, die uns aus <lb n="ple_116.009"/> dem Bereich der bloßen Gefühle hinausführen, verlangen wir mehr: hier <lb n="ple_116.010"/> muß in der Tat zum Schluß ein inhaltlich versöhnendes Element hervortreten; <lb n="ple_116.011"/> das Endergebnis muß uns über die Unlustgefühle hinwegheben, die <lb n="ple_116.012"/> im einzelnen in uns erweckt sind. Am deutlichsten zeigt sich das in der <lb n="ple_116.013"/> gegenständlichen Dichtung, also dem Drama und dem Epos. Keine noch <lb n="ple_116.014"/> so hohe formale Schönheit kann uns darüber hinweghelfen, wenn der Abschluß <lb n="ple_116.015"/> innerlich unbefriedigend ist. Daher wird die „Frage“ wie eine Dichtung, <lb n="ple_116.016"/> die mit dem Untergang des Helden schließt, trotzdem oder gar eben <lb n="ple_116.017"/> hierdurch Lust erwecken kann, zu dem schwerwiegenden Problem des Tragischen, <lb n="ple_116.018"/> dem wir späterhin eine besondere Betrachtung widmen werden. <lb n="ple_116.019"/> Aber wir können zunächst an den einfacheren Formen der lyrischen Dichtung <lb n="ple_116.020"/> noch weitere Beobachtungen machen.</p> <p><lb n="ple_116.021"/> Wo der Kontrast zweier Vorstellungen oder Gefühle uns lebhaft und <lb n="ple_116.022"/> scharf zum Bewußtsein kommt, da wird es nicht immer erreichbar sein, <lb n="ple_116.023"/> daß eines der beiden entgegengesetzten Glieder am Schluß völlig ausgelöscht <lb n="ple_116.024"/> und verschwunden erscheint. Daher sucht und findet der Dichter <lb n="ple_116.025"/> die Versöhnung häufig darin, daß der Kontrast durch eine dritte Vorstellung <lb n="ple_116.026"/> ausgleichender Natur überwunden und aufgehoben wird, so daß Pein und <lb n="ple_116.027"/> Zwiespalt am Schluß einer erhebenden oder doch beruhigten Stimmung <lb n="ple_116.028"/> Platz machen. Dazu genügt bisweilen schon, daß der schmerzliche Kontrast <lb n="ple_116.029"/> ins allgemeine erhoben und dadurch in seiner Notwendigkeit erkannt <lb n="ple_116.030"/> wird: hierdurch verliert er, auch wenn er fortbesteht, seinen Stachel; an <lb n="ple_116.031"/> die Stelle peinvoller Unruhe tritt eine sanfte Resignation. Ein typisches <lb n="ple_116.032"/> Beispiel bildet Lenaus <hi rendition="#g">Herbstklage:</hi> <lb n="ple_116.033"/> <cb type="start"/><hi rendition="#aq"><lg><l>Holder Lenz, du bist dahin!</l><lb n="ple_116.034"/><l>Nirgends, nirgends darfst du bleiben!</l><lb n="ple_116.035"/><l>Wo ich sah dein frohes Blühn,</l><lb n="ple_116.036"/><l>Braust des Herbstes banges Treiben </l></lg><lg><lb n="ple_116.037"/><l>Wie der Wind so traurig fuhr</l><lb n="ple_116.038"/><l>Durch den Strauch, als ob er weine;</l><lb n="ple_116.039"/><l>Sterbeseufzer der Natur</l><lb n="ple_116.040"/><l>Schauern durch die welken Haine.</l></lg><cb/><lb n="ple_116.101"/><lg><l>Wieder ist, wie bald! wie bald!</l><lb n="ple_116.102"/><l>Mir ein Jahr dahingeschwunden.</l><lb n="ple_116.103"/><l>Fragend rauscht es aus dem Wald:</l><lb n="ple_116.104"/><l>„Hat dein Herz sein Glück gefunden?“ </l></lg><lg><lb n="ple_116.105"/><l>Waldesrauschen, wunderbar</l><lb n="ple_116.106"/><l>Hast du mir das Herz getroffen!</l><lb n="ple_116.107"/><l>Treulich bringt ein jedes Jahr</l><lb n="ple_116.108"/><l>Welkes Laub und welkes Hoffen.</l></lg></hi><cb type="end"/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [116/0130]
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überwiegt. Ja, mehr als das, sie wird erhöht, wenn wir empfinden, wie ple_116.002
der Dichter auch Leidenschaften und Leiden zu überwinden, zu Kunstwerken ple_116.003
zu gestalten weiß. 1)
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Freilich das eben Gesagte gilt, wie die Erfahrung zeigt, nur von lyrischen ple_116.005
Gedichten und zwar wesentlich von solchen kleineren Umfangs, die ple_116.006
nichts weiter wollen, als eine gegebene Stimmung durchführen, und die ple_116.007
keinen eigentlichen Fortschritt des Gedankens oder der Stimmung enthalten. ple_116.008
Bei allen größeren Dichtungen aber, bei allen denen, die uns aus ple_116.009
dem Bereich der bloßen Gefühle hinausführen, verlangen wir mehr: hier ple_116.010
muß in der Tat zum Schluß ein inhaltlich versöhnendes Element hervortreten; ple_116.011
das Endergebnis muß uns über die Unlustgefühle hinwegheben, die ple_116.012
im einzelnen in uns erweckt sind. Am deutlichsten zeigt sich das in der ple_116.013
gegenständlichen Dichtung, also dem Drama und dem Epos. Keine noch ple_116.014
so hohe formale Schönheit kann uns darüber hinweghelfen, wenn der Abschluß ple_116.015
innerlich unbefriedigend ist. Daher wird die „Frage“ wie eine Dichtung, ple_116.016
die mit dem Untergang des Helden schließt, trotzdem oder gar eben ple_116.017
hierdurch Lust erwecken kann, zu dem schwerwiegenden Problem des Tragischen, ple_116.018
dem wir späterhin eine besondere Betrachtung widmen werden. ple_116.019
Aber wir können zunächst an den einfacheren Formen der lyrischen Dichtung ple_116.020
noch weitere Beobachtungen machen.
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Wo der Kontrast zweier Vorstellungen oder Gefühle uns lebhaft und ple_116.022
scharf zum Bewußtsein kommt, da wird es nicht immer erreichbar sein, ple_116.023
daß eines der beiden entgegengesetzten Glieder am Schluß völlig ausgelöscht ple_116.024
und verschwunden erscheint. Daher sucht und findet der Dichter ple_116.025
die Versöhnung häufig darin, daß der Kontrast durch eine dritte Vorstellung ple_116.026
ausgleichender Natur überwunden und aufgehoben wird, so daß Pein und ple_116.027
Zwiespalt am Schluß einer erhebenden oder doch beruhigten Stimmung ple_116.028
Platz machen. Dazu genügt bisweilen schon, daß der schmerzliche Kontrast ple_116.029
ins allgemeine erhoben und dadurch in seiner Notwendigkeit erkannt ple_116.030
wird: hierdurch verliert er, auch wenn er fortbesteht, seinen Stachel; an ple_116.031
die Stelle peinvoller Unruhe tritt eine sanfte Resignation. Ein typisches ple_116.032
Beispiel bildet Lenaus Herbstklage: ple_116.033
Holder Lenz, du bist dahin! ple_116.034
Nirgends, nirgends darfst du bleiben! ple_116.035
Wo ich sah dein frohes Blühn, ple_116.036
Braust des Herbstes banges Treiben
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Wie der Wind so traurig fuhr ple_116.038
Durch den Strauch, als ob er weine; ple_116.039
Sterbeseufzer der Natur ple_116.040
Schauern durch die welken Haine.
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Wieder ist, wie bald! wie bald! ple_116.102
Mir ein Jahr dahingeschwunden. ple_116.103
Fragend rauscht es aus dem Wald: ple_116.104
„Hat dein Herz sein Glück gefunden?“
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Waldesrauschen, wunderbar ple_116.106
Hast du mir das Herz getroffen! ple_116.107
Treulich bringt ein jedes Jahr ple_116.108
Welkes Laub und welkes Hoffen.
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Fechner hat übersehen, daß das „Lustübergewicht“, das er verlangt, nicht nur ple_116.110
durch inhaltliche Beziehungen herbeigeführt wird, sondern auch durch die ästhetische Lust ple_116.111
an der Form. Daher erklärt sich auch die schiefe Bezeichnung „Prinzip der ästhetischen ple_116.112
Versöhnung“.
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