Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_126.001 ple_126.032 ple_126.001 ple_126.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0140" n="126"/><lb n="ple_126.001"/> der modernen Franzosen, die Dekadenten und Symbolisten, sowie ihre <lb n="ple_126.002"/> deutschen Nachahmer darin gefolgt. Was wir bei der allgemeinen Betrachtung <lb n="ple_126.003"/> der Dichtersprache im neunten Kapitel als einen möglichen Fall <lb n="ple_126.004"/> berührten, daß der bestimmte Inhalt einer Empfindung und die Stärke des <lb n="ple_126.005"/> Gefühls, das sie begleitet, in einer Art von gegensätzlichem Verhältnis <lb n="ple_126.006"/> stehen, daß mithin die Stärke des Gefühls die Bestimmtheit der Anschauung <lb n="ple_126.007"/> beeinträchtigen kann und umkehrt, wird von ihnen als ein allgemeines Dogma <lb n="ple_126.008"/> verkündet. Daher suchen sie eine Wirkung, die ganz der Musik entspricht <lb n="ple_126.009"/> und ohne vermittelnde Vorstellung auf Gefühl und Stimmung gerichtet ist. <lb n="ple_126.010"/> Die letzten Umrisse bestimmter Erlebnisse und Vorgänge werden aufgelöst, <lb n="ple_126.011"/> und der Zusammenhang ist in den Strophen Mallarmés und oft auch <lb n="ple_126.012"/> Stefan Georges kein festerer, als ihn etwa der musikalische Gedanke <lb n="ple_126.013"/> eines Sonatensatzes gibt. Eben hierdurch aber fordert diese Lyrik eine <lb n="ple_126.014"/> Konkurrenz heraus, der sie von vornherein unterlegen ist. Die elementare <lb n="ple_126.015"/> Kraft der Gefühlswirkung, die der Musik eignet, erreicht das Wort als <lb n="ple_126.016"/> solches niemals. Und eben deshalb ist die Dichtung ihrem Wesen nach <lb n="ple_126.017"/> darauf angewiesen, durch das Wort sich an die anschauende Phantasie und <lb n="ple_126.018"/> das denkende Vermögen zu wenden. Es ist wahr, die lyrische Poesie <lb n="ple_126.019"/> sucht die Musik, wie die Musik ihrerseits das deutende Wort sucht, aber <lb n="ple_126.020"/> es ist eben die Ergänzung, nicht die Steigerung der eigenen Wesenskraft, <lb n="ple_126.021"/> die sie anstreben. Daher wird der lyrische Dichter immer wieder auf die <lb n="ple_126.022"/> andere Hälfte seiner Kunst, auf die Wirkung durch bildliche Anschauung <lb n="ple_126.023"/> gewiesen werden. Seine Bilder entnimmt er der Außenwelt, vor allem der <lb n="ple_126.024"/> Natur, aber sie haben Bedeutung und Wert — das hat uns die bisherige <lb n="ple_126.025"/> Betrachtung gezeigt — niemals in der bloßen Wiedergabe dessen, was <lb n="ple_126.026"/> Natur und Landschaft den Sinnen bietet. Vielmehr sind alle Bilder und <lb n="ple_126.027"/> Vorgänge der äußeren Natur für ihn nur Sinnbilder innerer Vorgänge: so <lb n="ple_126.028"/> fordert es das Gesetz der Verinnerlichung, das, wie wir sahen, das Grundgesetz <lb n="ple_126.029"/> der lyrischen Kunst ist, und hierauf beruht der <hi rendition="#g">symbolische</hi> Charakter, <lb n="ple_126.030"/> welcher zwar aller Poesie überhaupt, in besonderer Weise aber der <lb n="ple_126.031"/> Lyrik eignet.</p> <p><lb n="ple_126.032"/> Von zwei Seiten aus wird die <hi rendition="#g">Symbolik</hi> Bedürfnis des lyrischen <lb n="ple_126.033"/> Dichters. Die meisten inneren Vorgänge bedürfen eines äußeren Sinnbildes, <lb n="ple_126.034"/> um anschaulich zu werden, d. h. um überhaupt nachempfunden <lb n="ple_126.035"/> werden zu können. Das liegt schon im Wesen der Sprache, die viel zu <lb n="ple_126.036"/> arm an Ausdrücken für das Gefühlsleben ist, um es in seinen feineren <lb n="ple_126.037"/> Nuancen unmittelbar widerspiegeln zu können und zu diesem Zweck fast <lb n="ple_126.038"/> stets des Vergleichs mit Vorgängen der äußeren Welt bedarf. Die Fähigkeit, <lb n="ple_126.039"/> solche Symbole zu ergreifen und mit Leben zu erfüllen, macht offenbar einen <lb n="ple_126.040"/> wesentlichen Teil lyrischer Begabung aus. Sie ist nicht identisch, aber doch <lb n="ple_126.041"/> im innersten Kern verwandt mit der metapherbildenden Kraft des Sprachgeistes. <lb n="ple_126.042"/> Andrerseits liegt es auch im Wesen jedes starken Gefühls, daß <lb n="ple_126.043"/> es auf die Außenwelt übergreift, sie in seine Bahnen zieht und erfüllt: der </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [126/0140]
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der modernen Franzosen, die Dekadenten und Symbolisten, sowie ihre ple_126.002
deutschen Nachahmer darin gefolgt. Was wir bei der allgemeinen Betrachtung ple_126.003
der Dichtersprache im neunten Kapitel als einen möglichen Fall ple_126.004
berührten, daß der bestimmte Inhalt einer Empfindung und die Stärke des ple_126.005
Gefühls, das sie begleitet, in einer Art von gegensätzlichem Verhältnis ple_126.006
stehen, daß mithin die Stärke des Gefühls die Bestimmtheit der Anschauung ple_126.007
beeinträchtigen kann und umkehrt, wird von ihnen als ein allgemeines Dogma ple_126.008
verkündet. Daher suchen sie eine Wirkung, die ganz der Musik entspricht ple_126.009
und ohne vermittelnde Vorstellung auf Gefühl und Stimmung gerichtet ist. ple_126.010
Die letzten Umrisse bestimmter Erlebnisse und Vorgänge werden aufgelöst, ple_126.011
und der Zusammenhang ist in den Strophen Mallarmés und oft auch ple_126.012
Stefan Georges kein festerer, als ihn etwa der musikalische Gedanke ple_126.013
eines Sonatensatzes gibt. Eben hierdurch aber fordert diese Lyrik eine ple_126.014
Konkurrenz heraus, der sie von vornherein unterlegen ist. Die elementare ple_126.015
Kraft der Gefühlswirkung, die der Musik eignet, erreicht das Wort als ple_126.016
solches niemals. Und eben deshalb ist die Dichtung ihrem Wesen nach ple_126.017
darauf angewiesen, durch das Wort sich an die anschauende Phantasie und ple_126.018
das denkende Vermögen zu wenden. Es ist wahr, die lyrische Poesie ple_126.019
sucht die Musik, wie die Musik ihrerseits das deutende Wort sucht, aber ple_126.020
es ist eben die Ergänzung, nicht die Steigerung der eigenen Wesenskraft, ple_126.021
die sie anstreben. Daher wird der lyrische Dichter immer wieder auf die ple_126.022
andere Hälfte seiner Kunst, auf die Wirkung durch bildliche Anschauung ple_126.023
gewiesen werden. Seine Bilder entnimmt er der Außenwelt, vor allem der ple_126.024
Natur, aber sie haben Bedeutung und Wert — das hat uns die bisherige ple_126.025
Betrachtung gezeigt — niemals in der bloßen Wiedergabe dessen, was ple_126.026
Natur und Landschaft den Sinnen bietet. Vielmehr sind alle Bilder und ple_126.027
Vorgänge der äußeren Natur für ihn nur Sinnbilder innerer Vorgänge: so ple_126.028
fordert es das Gesetz der Verinnerlichung, das, wie wir sahen, das Grundgesetz ple_126.029
der lyrischen Kunst ist, und hierauf beruht der symbolische Charakter, ple_126.030
welcher zwar aller Poesie überhaupt, in besonderer Weise aber der ple_126.031
Lyrik eignet.
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Von zwei Seiten aus wird die Symbolik Bedürfnis des lyrischen ple_126.033
Dichters. Die meisten inneren Vorgänge bedürfen eines äußeren Sinnbildes, ple_126.034
um anschaulich zu werden, d. h. um überhaupt nachempfunden ple_126.035
werden zu können. Das liegt schon im Wesen der Sprache, die viel zu ple_126.036
arm an Ausdrücken für das Gefühlsleben ist, um es in seinen feineren ple_126.037
Nuancen unmittelbar widerspiegeln zu können und zu diesem Zweck fast ple_126.038
stets des Vergleichs mit Vorgängen der äußeren Welt bedarf. Die Fähigkeit, ple_126.039
solche Symbole zu ergreifen und mit Leben zu erfüllen, macht offenbar einen ple_126.040
wesentlichen Teil lyrischer Begabung aus. Sie ist nicht identisch, aber doch ple_126.041
im innersten Kern verwandt mit der metapherbildenden Kraft des Sprachgeistes. ple_126.042
Andrerseits liegt es auch im Wesen jedes starken Gefühls, daß ple_126.043
es auf die Außenwelt übergreift, sie in seine Bahnen zieht und erfüllt: der
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