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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen ple_133.002
auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der ple_133.003
Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche ple_133.004
Tradition fortzusetzen.

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Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten ple_133.006
gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders ple_133.007
zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen ple_133.008
und das ausgesprochene Urteil bestätigen: ple_133.009
[Beginn Spaltensatz]

Beträufelt an baum und zaun ple_133.010
Ein balsam das sprocke holz? ple_133.011
Verspäteter sonnen erglühn ple_133.012
Die herbstlichen farben verschmolz ple_133.013
Rotgelb. gesprenkeltes braun ple_133.014
Scharlach und seltsames grün.
[Spaltenumbruch] ple_133.101
Wer naht sich dem namenlosen ple_133.102
Der fern von der menge sich härmt? ple_133.103
In mattblauen kleidern ein kind .. ple_133.104
So raschelt ein schüchterner wind ple_133.105
So duften sterbende rosen ple_133.106
Von scheidenden strahlen erwärmt.
[Ende Spaltensatz] ple_133.107
An schillernder hecken rand ple_133.108
Bei dorrenden laubes geknister ple_133.109
Und lichter wipfel sang ple_133.110
Führen wir uns bei der hand ple_133.111
Wie märchenhafte geschwister ple_133.112
Verzückt und mit zagendem gang.

ple_133.113
Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses, ple_133.114
eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere ple_133.115
Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang ple_133.116
hervorgerufen. Es kann nun aber auch einen rein innerlichen Ursprung ple_133.117
haben, durch einen Vorgang in der Gedankenwelt des Dichters ple_133.118
verursacht sein.1) Philosophische Gedanken, Reflexionen und allgemeine ple_133.119
Anschauungen sind an sich verstandesmäßig und bilden daher so wenig ple_133.120
unmittelbar einen Gegenstand für die Lyrik wie Ereignisse der äußeren ple_133.121
Welt. Aber wo sie tief in der Persönlichkeit des Dichters wurzeln, wo sie ple_133.122
für sein ganzes Seelenwesen Bedeutung haben, da vermögen sie nicht ple_133.123
minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens. ple_133.124
Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein ple_133.125
ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe. ple_133.126
Daher ist denn auch die Grenze zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik

1) ple_133.127
Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses "Gedankenerlebnis" ple_133.128
seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann ple_133.129
doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese ple_133.130
Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt ple_133.131
er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach ple_133.132
ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem ple_133.133
Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: "Daß für ple_133.134
den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie ple_133.135
Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht." ple_133.136
Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches.

ple_133.001
wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen ple_133.002
auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der ple_133.003
Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche ple_133.004
Tradition fortzusetzen.

ple_133.005
Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten ple_133.006
gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders ple_133.007
zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen ple_133.008
und das ausgesprochene Urteil bestätigen: ple_133.009
[Beginn Spaltensatz]

Beträufelt an baum und zaun ple_133.010
Ein balsam das sprocke holz? ple_133.011
Verspäteter sonnen erglühn ple_133.012
Die herbstlichen farben verschmolz ple_133.013
Rotgelb. gesprenkeltes braun ple_133.014
Scharlach und seltsames grün.
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Wer naht sich dem namenlosen ple_133.102
Der fern von der menge sich härmt? ple_133.103
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Führen wir uns bei der hand ple_133.111
Wie märchenhafte geschwister ple_133.112
Verzückt und mit zagendem gang.

ple_133.113
Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses, ple_133.114
eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere ple_133.115
Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang ple_133.116
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minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens. ple_133.124
Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein ple_133.125
ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe. ple_133.126
Daher ist denn auch die Grenze zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik

1) ple_133.127
Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses „Gedankenerlebnis“ ple_133.128
seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann ple_133.129
doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese ple_133.130
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Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: „Daß für ple_133.134
den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie ple_133.135
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[133/0147] ple_133.001 wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen ple_133.002 auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der ple_133.003 Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche ple_133.004 Tradition fortzusetzen. ple_133.005 Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten ple_133.006 gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders ple_133.007 zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen ple_133.008 und das ausgesprochene Urteil bestätigen: ple_133.009 Beträufelt an baum und zaun ple_133.010 Ein balsam das sprocke holz? ple_133.011 Verspäteter sonnen erglühn ple_133.012 Die herbstlichen farben verschmolz ple_133.013 Rotgelb. gesprenkeltes braun ple_133.014 Scharlach und seltsames grün. ple_133.101 Wer naht sich dem namenlosen ple_133.102 Der fern von der menge sich härmt? ple_133.103 In mattblauen kleidern ein kind .. ple_133.104 So raschelt ein schüchterner wind ple_133.105 So duften sterbende rosen ple_133.106 Von scheidenden strahlen erwärmt. ple_133.107 An schillernder hecken rand ple_133.108 Bei dorrenden laubes geknister ple_133.109 Und lichter wipfel sang ple_133.110 Führen wir uns bei der hand ple_133.111 Wie märchenhafte geschwister ple_133.112 Verzückt und mit zagendem gang. ple_133.113 Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses, ple_133.114 eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere ple_133.115 Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang ple_133.116 hervorgerufen. Es kann nun aber auch einen rein innerlichen Ursprung ple_133.117 haben, durch einen Vorgang in der Gedankenwelt des Dichters ple_133.118 verursacht sein. 1) Philosophische Gedanken, Reflexionen und allgemeine ple_133.119 Anschauungen sind an sich verstandesmäßig und bilden daher so wenig ple_133.120 unmittelbar einen Gegenstand für die Lyrik wie Ereignisse der äußeren ple_133.121 Welt. Aber wo sie tief in der Persönlichkeit des Dichters wurzeln, wo sie ple_133.122 für sein ganzes Seelenwesen Bedeutung haben, da vermögen sie nicht ple_133.123 minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens. ple_133.124 Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein ple_133.125 ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe. ple_133.126 Daher ist denn auch die Grenze zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik 1) ple_133.127 Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses „Gedankenerlebnis“ ple_133.128 seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann ple_133.129 doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese ple_133.130 Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt ple_133.131 er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach ple_133.132 ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem ple_133.133 Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: „Daß für ple_133.134 den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie ple_133.135 Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht.“ ple_133.136 Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/147>, abgerufen am 22.11.2024.