Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_133.001 ple_133.005 ple_133.113 1) ple_133.127
Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses "Gedankenerlebnis" ple_133.128 seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann ple_133.129 doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese ple_133.130 Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt ple_133.131 er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach ple_133.132 ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem ple_133.133 Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: "Daß für ple_133.134 den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie ple_133.135 Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht." ple_133.136 Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches. ple_133.001 ple_133.005 ple_133.113 1) ple_133.127
Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses „Gedankenerlebnis“ ple_133.128 seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann ple_133.129 doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese ple_133.130 Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt ple_133.131 er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach ple_133.132 ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem ple_133.133 Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: „Daß für ple_133.134 den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie ple_133.135 Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht.“ ple_133.136 Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0147" n="133"/><lb n="ple_133.001"/> wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen <lb n="ple_133.002"/> auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der <lb n="ple_133.003"/> Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche <lb n="ple_133.004"/> Tradition fortzusetzen.</p> <p><lb n="ple_133.005"/> Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten <lb n="ple_133.006"/> gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders <lb n="ple_133.007"/> zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen <lb n="ple_133.008"/> und das ausgesprochene Urteil bestätigen: <lb n="ple_133.009"/> <cb type="start"/><hi rendition="#aq"><lg><l>Beträufelt an baum und zaun</l><lb n="ple_133.010"/><l>Ein balsam das sprocke holz?</l><lb n="ple_133.011"/><l>Verspäteter sonnen erglühn</l><lb n="ple_133.012"/><l>Die herbstlichen farben verschmolz</l><lb n="ple_133.013"/><l>Rotgelb. gesprenkeltes braun</l><lb n="ple_133.014"/><l>Scharlach und seltsames grün.</l></lg><cb/><lb n="ple_133.101"/><lg><l>Wer naht sich dem namenlosen</l><lb n="ple_133.102"/><l>Der fern von der menge sich härmt?</l><lb n="ple_133.103"/><l>In mattblauen kleidern ein kind ..</l><lb n="ple_133.104"/><l>So raschelt ein schüchterner wind</l><lb n="ple_133.105"/><l>So duften sterbende rosen</l><lb n="ple_133.106"/><l>Von scheidenden strahlen erwärmt.</l></lg><cb type="end"/><lb n="ple_133.107"/><lg><l>An schillernder hecken rand</l><lb n="ple_133.108"/><l>Bei dorrenden laubes geknister</l><lb n="ple_133.109"/><l>Und lichter wipfel sang</l><lb n="ple_133.110"/><l>Führen wir uns bei der hand</l><lb n="ple_133.111"/><l>Wie märchenhafte geschwister</l><lb n="ple_133.112"/><l>Verzückt und mit zagendem gang.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_133.113"/> Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses, <lb n="ple_133.114"/> eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere <lb n="ple_133.115"/> Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang <lb n="ple_133.116"/> hervorgerufen. Es kann nun aber auch einen rein innerlichen Ursprung <lb n="ple_133.117"/> haben, durch einen Vorgang in der Gedankenwelt des Dichters <lb n="ple_133.118"/> verursacht sein.<note xml:id="ple_133_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_133.127"/> Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses „Gedankenerlebnis“ <lb n="ple_133.128"/> seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann <lb n="ple_133.129"/> doch ein <hi rendition="#g">indirekter</hi> Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese <lb n="ple_133.130"/> Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). 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Aber wo sie tief in der Persönlichkeit des Dichters wurzeln, wo sie <lb n="ple_133.122"/> für sein ganzes Seelenwesen Bedeutung haben, da vermögen sie nicht <lb n="ple_133.123"/> minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens. <lb n="ple_133.124"/> Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein <lb n="ple_133.125"/> ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe. <lb n="ple_133.126"/> Daher ist denn auch die Grenze zwischen <hi rendition="#g">Gefühls- und Gedankenlyrik</hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [133/0147]
ple_133.001
wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen ple_133.002
auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der ple_133.003
Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche ple_133.004
Tradition fortzusetzen.
ple_133.005
Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten ple_133.006
gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders ple_133.007
zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen ple_133.008
und das ausgesprochene Urteil bestätigen: ple_133.009
Beträufelt an baum und zaun ple_133.010
Ein balsam das sprocke holz? ple_133.011
Verspäteter sonnen erglühn ple_133.012
Die herbstlichen farben verschmolz ple_133.013
Rotgelb. gesprenkeltes braun ple_133.014
Scharlach und seltsames grün.
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Wer naht sich dem namenlosen ple_133.102
Der fern von der menge sich härmt? ple_133.103
In mattblauen kleidern ein kind .. ple_133.104
So raschelt ein schüchterner wind ple_133.105
So duften sterbende rosen ple_133.106
Von scheidenden strahlen erwärmt.
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An schillernder hecken rand ple_133.108
Bei dorrenden laubes geknister ple_133.109
Und lichter wipfel sang ple_133.110
Führen wir uns bei der hand ple_133.111
Wie märchenhafte geschwister ple_133.112
Verzückt und mit zagendem gang.
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Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses, ple_133.114
eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere ple_133.115
Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang ple_133.116
hervorgerufen. Es kann nun aber auch einen rein innerlichen Ursprung ple_133.117
haben, durch einen Vorgang in der Gedankenwelt des Dichters ple_133.118
verursacht sein. 1) Philosophische Gedanken, Reflexionen und allgemeine ple_133.119
Anschauungen sind an sich verstandesmäßig und bilden daher so wenig ple_133.120
unmittelbar einen Gegenstand für die Lyrik wie Ereignisse der äußeren ple_133.121
Welt. Aber wo sie tief in der Persönlichkeit des Dichters wurzeln, wo sie ple_133.122
für sein ganzes Seelenwesen Bedeutung haben, da vermögen sie nicht ple_133.123
minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens. ple_133.124
Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein ple_133.125
ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe. ple_133.126
Daher ist denn auch die Grenze zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik
1) ple_133.127
Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses „Gedankenerlebnis“ ple_133.128
seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann ple_133.129
doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R. M. Werner scheint diese ple_133.130
Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt ple_133.131
er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach ple_133.132
ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem ple_133.133
Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: „Daß für ple_133.134
den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie ple_133.135
Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht.“ ple_133.136
Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches.
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