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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Forderungen, die, wenn auch verschieden formuliert und zum Teil unabhängig ple_143.002
von Humboldt, bis auf die Gegenwart immer wieder erhoben ple_143.003
worden sind. Es ist nötig, sie näher zu betrachten.

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Von diesen Gesetzen ist offenbar das der Totalität das auffallendste ple_143.005
und am schwersten verständliche. Was bedeutet es? Alle Dichtung hat, ple_143.006
wie Humboldt sagt, eine Tendenz, "die Welt als den geschlossenen Kreis ple_143.007
alles Wirklichen zu umfassen", indem sie "entweder den Kreis der Objekte ple_143.008
oder den Kreis der Empfindungen durchläuft, den sie hervorbringen". Im ple_143.009
besonderen Maße aber soll diese Tendenz der epischen Poesie eignen: ple_143.010
sie strebt innerhalb der einzelnen Dichtung danach, die Welt oder doch ple_143.011
die Menschheit in all ihren wesentlichen Phasen und Erscheinungen zu ple_143.012
umfassen und ist "erst mit der Vollendung des ganzen Kreises befriedigt". ple_143.013
"Wie ist es z. B. möglich, das Alter des Jünglings lebendig zu schildern, ple_143.014
ohne daß der Phantasie zugleich das Kind, aus dem er hervorgeht, der ple_143.015
Mann, dem seine Kraft entgegenreift, und der Greis, in dem die letzten ple_143.016
Funken seines auflodernden Feuers verglimmen, gegenwärtig wären? Wie ple_143.017
den Helden zu malen, der auf dem Schlachtfelde, mitten unter Leichnamen, ple_143.018
den Tod gebeut und das Verderben planmäßig anordnet, ohne den ruhigen ple_143.019
Denker, der zwischen seinen einsamen Wänden, fern von aller ausübenden ple_143.020
Tätigkeit und den Ereignissen des Tages fremd, nur Wahrheiten nachspäht, ple_143.021
die vielleicht erst kommenden Jahrhunderten segenvolle Früchte versprechen, ple_143.022
oder den ruhigen Pflüger, der, nur für das Bedürfnis des Tages besorgt, ple_143.023
nur auf den Wechsel der sich immer von neuem abrollenden Jahreszeiten ple_143.024
beschränkt, bloß der künftigen Ernte gedenkt, zugleich vor die Seele zu ple_143.025
rufen?" (S. 139 ff.)

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Diese Behauptung ist an sich so wenig einleuchtend, daß man sich ple_143.027
unwillkürlich fragt, wie ein so scharfsinniger Denker auf sie gekommen sein ple_143.028
mag. Vermutlich ist sie durch Schillersche Ideen, wie sie namentlich in den ple_143.029
Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Ausdruck gekommen ple_143.030
sind, beeinflußt, obgleich dieselben dann freilich eine wesentliche ple_143.031
Umbildung erfahren haben. Schiller fand, daß in dem ästhetischen Zustand ple_143.032
überhaupt die Totalität der menschlichen Natur zum Ausdruck komme, ple_143.033
alle geistigen Kräfte, alle Stimmungen des Gemüts im Spiel sich entfalten. ple_143.034
Aber er bezog diese Vorstellung nur auf die Gesamtwirkung der Kunst ple_143.035
und auf den subjektiven Zustand des Schaffenden oder Genießenden. ple_143.036
Wenn Humboldt das Epos ganz besonders für den Ausdruck dieser universellen ple_143.037
Tendenz in Anspruch nimmt und dabei eine Universalität der ple_143.038
dargestellten Objekte vorschreibt, so ist, wie die zuletzt angeführte Stelle ple_143.039
zeigt, seine Auffassung der homerischen Gedichte maßgebend gewesen. ple_143.040
Hängen doch die einzelnen Sätze seiner Theorie so stark von diesem Vorbild ple_143.041
ab, daß er z. B. behauptet: "Der Kampf, in welchem der epische ple_143.042
Dichter den Menschen mit dem Schicksal zeigt und ohne den es nie eine ple_143.043
große sinnliche Bewegung gibt, muß sich in Sieg oder in Frieden und

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Forderungen, die, wenn auch verschieden formuliert und zum Teil unabhängig ple_143.002
von Humboldt, bis auf die Gegenwart immer wieder erhoben ple_143.003
worden sind. Es ist nötig, sie näher zu betrachten.

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Von diesen Gesetzen ist offenbar das der Totalität das auffallendste ple_143.005
und am schwersten verständliche. Was bedeutet es? Alle Dichtung hat, ple_143.006
wie Humboldt sagt, eine Tendenz, „die Welt als den geschlossenen Kreis ple_143.007
alles Wirklichen zu umfassen“, indem sie „entweder den Kreis der Objekte ple_143.008
oder den Kreis der Empfindungen durchläuft, den sie hervorbringen“. Im ple_143.009
besonderen Maße aber soll diese Tendenz der epischen Poesie eignen: ple_143.010
sie strebt innerhalb der einzelnen Dichtung danach, die Welt oder doch ple_143.011
die Menschheit in all ihren wesentlichen Phasen und Erscheinungen zu ple_143.012
umfassen und ist „erst mit der Vollendung des ganzen Kreises befriedigt“. ple_143.013
„Wie ist es z. B. möglich, das Alter des Jünglings lebendig zu schildern, ple_143.014
ohne daß der Phantasie zugleich das Kind, aus dem er hervorgeht, der ple_143.015
Mann, dem seine Kraft entgegenreift, und der Greis, in dem die letzten ple_143.016
Funken seines auflodernden Feuers verglimmen, gegenwärtig wären? Wie ple_143.017
den Helden zu malen, der auf dem Schlachtfelde, mitten unter Leichnamen, ple_143.018
den Tod gebeut und das Verderben planmäßig anordnet, ohne den ruhigen ple_143.019
Denker, der zwischen seinen einsamen Wänden, fern von aller ausübenden ple_143.020
Tätigkeit und den Ereignissen des Tages fremd, nur Wahrheiten nachspäht, ple_143.021
die vielleicht erst kommenden Jahrhunderten segenvolle Früchte versprechen, ple_143.022
oder den ruhigen Pflüger, der, nur für das Bedürfnis des Tages besorgt, ple_143.023
nur auf den Wechsel der sich immer von neuem abrollenden Jahreszeiten ple_143.024
beschränkt, bloß der künftigen Ernte gedenkt, zugleich vor die Seele zu ple_143.025
rufen?“ (S. 139 ff.)

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Diese Behauptung ist an sich so wenig einleuchtend, daß man sich ple_143.027
unwillkürlich fragt, wie ein so scharfsinniger Denker auf sie gekommen sein ple_143.028
mag. Vermutlich ist sie durch Schillersche Ideen, wie sie namentlich in den ple_143.029
Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Ausdruck gekommen ple_143.030
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Umbildung erfahren haben. Schiller fand, daß in dem ästhetischen Zustand ple_143.032
überhaupt die Totalität der menschlichen Natur zum Ausdruck komme, ple_143.033
alle geistigen Kräfte, alle Stimmungen des Gemüts im Spiel sich entfalten. ple_143.034
Aber er bezog diese Vorstellung nur auf die Gesamtwirkung der Kunst ple_143.035
und auf den subjektiven Zustand des Schaffenden oder Genießenden. ple_143.036
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Tendenz in Anspruch nimmt und dabei eine Universalität der ple_143.038
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zeigt, seine Auffassung der homerischen Gedichte maßgebend gewesen. ple_143.040
Hängen doch die einzelnen Sätze seiner Theorie so stark von diesem Vorbild ple_143.041
ab, daß er z. B. behauptet: „Der Kampf, in welchem der epische ple_143.042
Dichter den Menschen mit dem Schicksal zeigt und ohne den es nie eine ple_143.043
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[143/0157] ple_143.001 Forderungen, die, wenn auch verschieden formuliert und zum Teil unabhängig ple_143.002 von Humboldt, bis auf die Gegenwart immer wieder erhoben ple_143.003 worden sind. Es ist nötig, sie näher zu betrachten. ple_143.004 Von diesen Gesetzen ist offenbar das der Totalität das auffallendste ple_143.005 und am schwersten verständliche. Was bedeutet es? Alle Dichtung hat, ple_143.006 wie Humboldt sagt, eine Tendenz, „die Welt als den geschlossenen Kreis ple_143.007 alles Wirklichen zu umfassen“, indem sie „entweder den Kreis der Objekte ple_143.008 oder den Kreis der Empfindungen durchläuft, den sie hervorbringen“. Im ple_143.009 besonderen Maße aber soll diese Tendenz der epischen Poesie eignen: ple_143.010 sie strebt innerhalb der einzelnen Dichtung danach, die Welt oder doch ple_143.011 die Menschheit in all ihren wesentlichen Phasen und Erscheinungen zu ple_143.012 umfassen und ist „erst mit der Vollendung des ganzen Kreises befriedigt“. ple_143.013 „Wie ist es z. B. möglich, das Alter des Jünglings lebendig zu schildern, ple_143.014 ohne daß der Phantasie zugleich das Kind, aus dem er hervorgeht, der ple_143.015 Mann, dem seine Kraft entgegenreift, und der Greis, in dem die letzten ple_143.016 Funken seines auflodernden Feuers verglimmen, gegenwärtig wären? Wie ple_143.017 den Helden zu malen, der auf dem Schlachtfelde, mitten unter Leichnamen, ple_143.018 den Tod gebeut und das Verderben planmäßig anordnet, ohne den ruhigen ple_143.019 Denker, der zwischen seinen einsamen Wänden, fern von aller ausübenden ple_143.020 Tätigkeit und den Ereignissen des Tages fremd, nur Wahrheiten nachspäht, ple_143.021 die vielleicht erst kommenden Jahrhunderten segenvolle Früchte versprechen, ple_143.022 oder den ruhigen Pflüger, der, nur für das Bedürfnis des Tages besorgt, ple_143.023 nur auf den Wechsel der sich immer von neuem abrollenden Jahreszeiten ple_143.024 beschränkt, bloß der künftigen Ernte gedenkt, zugleich vor die Seele zu ple_143.025 rufen?“ (S. 139 ff.) ple_143.026 Diese Behauptung ist an sich so wenig einleuchtend, daß man sich ple_143.027 unwillkürlich fragt, wie ein so scharfsinniger Denker auf sie gekommen sein ple_143.028 mag. Vermutlich ist sie durch Schillersche Ideen, wie sie namentlich in den ple_143.029 Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Ausdruck gekommen ple_143.030 sind, beeinflußt, obgleich dieselben dann freilich eine wesentliche ple_143.031 Umbildung erfahren haben. Schiller fand, daß in dem ästhetischen Zustand ple_143.032 überhaupt die Totalität der menschlichen Natur zum Ausdruck komme, ple_143.033 alle geistigen Kräfte, alle Stimmungen des Gemüts im Spiel sich entfalten. ple_143.034 Aber er bezog diese Vorstellung nur auf die Gesamtwirkung der Kunst ple_143.035 und auf den subjektiven Zustand des Schaffenden oder Genießenden. ple_143.036 Wenn Humboldt das Epos ganz besonders für den Ausdruck dieser universellen ple_143.037 Tendenz in Anspruch nimmt und dabei eine Universalität der ple_143.038 dargestellten Objekte vorschreibt, so ist, wie die zuletzt angeführte Stelle ple_143.039 zeigt, seine Auffassung der homerischen Gedichte maßgebend gewesen. ple_143.040 Hängen doch die einzelnen Sätze seiner Theorie so stark von diesem Vorbild ple_143.041 ab, daß er z. B. behauptet: „Der Kampf, in welchem der epische ple_143.042 Dichter den Menschen mit dem Schicksal zeigt und ohne den es nie eine ple_143.043 große sinnliche Bewegung gibt, muß sich in Sieg oder in Frieden und

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/157>, abgerufen am 21.11.2024.