Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_002.001 ple_002.010 ple_002.028 ple_002.001 ple_002.010 ple_002.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0016" n="2"/><lb n="ple_002.001"/> Auge hatten, wandten sich unmittelbar an die Dichter, denen sie die <lb n="ple_002.002"/> richtige Technik und den wahren Geist der Poesie überliefern wollten. <lb n="ple_002.003"/> So beispielsweise die einflußreichste und liebenswürdigste Poetik des <lb n="ple_002.004"/> 17. Jahrhunderts: <hi rendition="#g">Boileaus Art Poétique</hi> (1674), die fast durchweg die <lb n="ple_002.005"/> Form der Anrede an die Dichter festhält und den größeren Teil ihrer Betrachtungen <lb n="ple_002.006"/> in imperative Regelform faßt. Wie geistreicher Vertiefung eine <lb n="ple_002.007"/> solche praktische und technische Betrachtung fähig ist, hat noch im verflossenen <lb n="ple_002.008"/> Jahrhundert <hi rendition="#g">Gustav Freytags Technik des Dramas</hi> (1863) <lb n="ple_002.009"/> gezeigt. —</p> <p><lb n="ple_002.010"/> Die Regeln, die der Dichter vor Augen haben muß, sind nun nach <lb n="ple_002.011"/> der überlieferten Auffassung immer zugleich Normen für den „Kunstrichter“, <lb n="ple_002.012"/> der ihn beurteilt: <hi rendition="#g">seine</hi> Aufgabe ist es, festzustellen, ob sie mit Glück <lb n="ple_002.013"/> befolgt, oder ob sie verletzt und übertreten sind. Die Betrachtung der <lb n="ple_002.014"/> Formen und Arten der Dichtkunst liefert das Grundschema für das Kunsturteil, <lb n="ple_002.015"/> und aus der technischen Anweisung zur Ausübung erwächst somit <lb n="ple_002.016"/> zugleich die <hi rendition="#g">Anleitung zur Kritik.</hi> Das zeigt sich bei Scaliger nicht <lb n="ple_002.017"/> minder deutlich wie bei Boileau, dessen Buch zum Kanon für die klassische <lb n="ple_002.018"/> Kritik des 17. und 18. Jahrhunderts geworden ist. Boileaus geistesverwandter <lb n="ple_002.019"/> Anhänger <hi rendition="#g">Gottsched</hi> brachte diese doppelte Tendenz seines Werkes in <lb n="ple_002.020"/> dem Titel: <hi rendition="#g">Kritische Dichtkunst</hi> (1724) bezeichnend zum Ausdruck. <lb n="ple_002.021"/> Bisweilen zeigt die Behandlung des Gegenstandes den umgekehrten Gang, <lb n="ple_002.022"/> so z. B. in <hi rendition="#g">Horaz'</hi> sogenanntem Buch von der Dichtkunst, das freilich <lb n="ple_002.023"/> keineswegs eine systematische Poetik ist oder sein will, sondern vielmehr <lb n="ple_002.024"/> eine locker aneinander gereihte Sammlung von Bemerkungen und Gedanken <lb n="ple_002.025"/> über Poesie ist: es beginnt mit rein kritischen Beobachtungen, um <lb n="ple_002.026"/> dann zu einer positiven praktischen Anweisung, metrischen Regeln, Anleitungen <lb n="ple_002.027"/> zur Charakteristik u. dergl. überzugehen. —</p> <p><lb n="ple_002.028"/> Aber technische Regeln sowohl wie kritische Lehren bedürfen der <lb n="ple_002.029"/> Begründung, wenn sie nicht willkürlich erscheinen, eines inneren Zusammenhangs, <lb n="ple_002.030"/> wenn sie nicht zufällig und vereinzelt bleiben sollen. <lb n="ple_002.031"/> Beides kann die Poetik nur aus einer allgemeinen Auffassung der <lb n="ple_002.032"/> Poesie, ja der Kunst überhaupt schöpfen. Daher treibt das praktische Bedürfnis <lb n="ple_002.033"/> von innen heraus zum theoretischen Denken, und dies führt mit <lb n="ple_002.034"/> gleicher Notwendigkeit auf einen allgemeinen Zusammenhang ästhetischer <lb n="ple_002.035"/> Anschauungen zurück. So erhält die Poetik eine vertiefte und selbständige <lb n="ple_002.036"/> Bedeutung: sie wird aus einer Technik zur Wissenschaft, zu einem eigenen <lb n="ple_002.037"/> Gebiete im Gesamtbereich der Ästhetik. Sie verzeichnet nun nicht mehr <lb n="ple_002.038"/> bloß die Erscheinungen, die sie vorfindet, sondern sie deutet sie auch. <lb n="ple_002.039"/> Die praktische Regel wird für sie zum theoretischen Gesetz in dem gleichen <lb n="ple_002.040"/> Sinne, wie die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache hinter der grammatischen <lb n="ple_002.041"/> Regel das wirkende Gesetz erkennt. Diese <hi rendition="#g">wissenschaftliche <lb n="ple_002.042"/> Poetik</hi> als solche hat kein unmittelbar praktisches Ziel mehr, so wenig <lb n="ple_002.043"/> wie die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt: sie will weder dem Dichter </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2/0016]
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Auge hatten, wandten sich unmittelbar an die Dichter, denen sie die ple_002.002
richtige Technik und den wahren Geist der Poesie überliefern wollten. ple_002.003
So beispielsweise die einflußreichste und liebenswürdigste Poetik des ple_002.004
17. Jahrhunderts: Boileaus Art Poétique (1674), die fast durchweg die ple_002.005
Form der Anrede an die Dichter festhält und den größeren Teil ihrer Betrachtungen ple_002.006
in imperative Regelform faßt. Wie geistreicher Vertiefung eine ple_002.007
solche praktische und technische Betrachtung fähig ist, hat noch im verflossenen ple_002.008
Jahrhundert Gustav Freytags Technik des Dramas (1863) ple_002.009
gezeigt. —
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Die Regeln, die der Dichter vor Augen haben muß, sind nun nach ple_002.011
der überlieferten Auffassung immer zugleich Normen für den „Kunstrichter“, ple_002.012
der ihn beurteilt: seine Aufgabe ist es, festzustellen, ob sie mit Glück ple_002.013
befolgt, oder ob sie verletzt und übertreten sind. Die Betrachtung der ple_002.014
Formen und Arten der Dichtkunst liefert das Grundschema für das Kunsturteil, ple_002.015
und aus der technischen Anweisung zur Ausübung erwächst somit ple_002.016
zugleich die Anleitung zur Kritik. Das zeigt sich bei Scaliger nicht ple_002.017
minder deutlich wie bei Boileau, dessen Buch zum Kanon für die klassische ple_002.018
Kritik des 17. und 18. Jahrhunderts geworden ist. Boileaus geistesverwandter ple_002.019
Anhänger Gottsched brachte diese doppelte Tendenz seines Werkes in ple_002.020
dem Titel: Kritische Dichtkunst (1724) bezeichnend zum Ausdruck. ple_002.021
Bisweilen zeigt die Behandlung des Gegenstandes den umgekehrten Gang, ple_002.022
so z. B. in Horaz' sogenanntem Buch von der Dichtkunst, das freilich ple_002.023
keineswegs eine systematische Poetik ist oder sein will, sondern vielmehr ple_002.024
eine locker aneinander gereihte Sammlung von Bemerkungen und Gedanken ple_002.025
über Poesie ist: es beginnt mit rein kritischen Beobachtungen, um ple_002.026
dann zu einer positiven praktischen Anweisung, metrischen Regeln, Anleitungen ple_002.027
zur Charakteristik u. dergl. überzugehen. —
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Aber technische Regeln sowohl wie kritische Lehren bedürfen der ple_002.029
Begründung, wenn sie nicht willkürlich erscheinen, eines inneren Zusammenhangs, ple_002.030
wenn sie nicht zufällig und vereinzelt bleiben sollen. ple_002.031
Beides kann die Poetik nur aus einer allgemeinen Auffassung der ple_002.032
Poesie, ja der Kunst überhaupt schöpfen. Daher treibt das praktische Bedürfnis ple_002.033
von innen heraus zum theoretischen Denken, und dies führt mit ple_002.034
gleicher Notwendigkeit auf einen allgemeinen Zusammenhang ästhetischer ple_002.035
Anschauungen zurück. So erhält die Poetik eine vertiefte und selbständige ple_002.036
Bedeutung: sie wird aus einer Technik zur Wissenschaft, zu einem eigenen ple_002.037
Gebiete im Gesamtbereich der Ästhetik. Sie verzeichnet nun nicht mehr ple_002.038
bloß die Erscheinungen, die sie vorfindet, sondern sie deutet sie auch. ple_002.039
Die praktische Regel wird für sie zum theoretischen Gesetz in dem gleichen ple_002.040
Sinne, wie die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache hinter der grammatischen ple_002.041
Regel das wirkende Gesetz erkennt. Diese wissenschaftliche ple_002.042
Poetik als solche hat kein unmittelbar praktisches Ziel mehr, so wenig ple_002.043
wie die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt: sie will weder dem Dichter
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