Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_003.001 ple_003.007 ple_003.009 2. Geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Poetik. ple_003.010 ple_003.015 ple_003.026 ple_003.001 ple_003.007 ple_003.009 2. Geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Poetik. ple_003.010 ple_003.015 ple_003.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0017" n="3"/><lb n="ple_003.001"/> noch dem Kritiker dienen; sie will nur Einsicht in das Wesen der Dichtkunst <lb n="ple_003.002"/> sein. Freilich gerade dadurch wird sie mittelbar wiederum praktisch <lb n="ple_003.003"/> wirksam: sie führt zu einem tieferen Verständnis wie der Poesie im Ganzen, <lb n="ple_003.004"/> so auch der einzelnen Dichtungen; damit aber begründet sie eine tiefere <lb n="ple_003.005"/> Kritik und vermag es wenigstens bisweilen, der dichterischen Produktion <lb n="ple_003.006"/> selbst die Wege zu weisen.</p> <p><lb n="ple_003.007"/> Dies ist der moderne Begriff einer wissenschaftlichen Poetik und er <lb n="ple_003.008"/> ist es daher, der den folgenden Betrachtungen die Richtung geben muß.</p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_003.009"/> <hi rendition="#b">2. Geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Poetik.</hi> </head> <p><lb n="ple_003.010"/> Welches ist der Gang, den die wissenschaftliche Poetik zu nehmen hat? <lb n="ple_003.011"/> Von welchen Grundlagen muß sie ausgehen, welchen Zielen soll sie zustreben? <lb n="ple_003.012"/> Hierüber, wie über die Lehre vom Schönen und der Kunst überhaupt, <lb n="ple_003.013"/> haben verschiedene Zeitalter und Denker sehr verschiedene Vorstellungen <lb n="ple_003.014"/> gehabt.</p> <p><lb n="ple_003.015"/> Die älteste und ehrwürdigste Poetik, die wir besitzen, die des <hi rendition="#g">Aristoteles,</hi> <lb n="ple_003.016"/> zeigt, wiewohl sie uns in verstümmeltem Zustande überliefert ist, <lb n="ple_003.017"/> doch deutlich genug eine ganz bestimmte Richtung und Methode. Sie <lb n="ple_003.018"/> geht überall von der gegebenen Wirklichkeit aus, von den tatsächlich vorhandenen <lb n="ple_003.019"/> und bekannten Dichtungen. Der Kreis der hellenischen Poesie, <lb n="ple_003.020"/> aus dem der erste Ästhetiker der Weltgeschichte sein Material schöpft, ist <lb n="ple_003.021"/> national und zeitlich begrenzt, aber freilich innerhalb dieser Grenzen unendlich <lb n="ple_003.022"/> reich und mannigfaltig; und überall, nicht nur an den zahlreichen <lb n="ple_003.023"/> Stellen, wo er sich auf bestimmte Dichtungen beruft, fühlen wir es durch, <lb n="ple_003.024"/> daß diese Gedanken und Beobachtungen aus der vollen Anschauung eines <lb n="ple_003.025"/> großen und reichen künstlerischen Lebens geschöpft sind.</p> <p><lb n="ple_003.026"/> Dieses Material nun behandelt Aristoteles nicht etwa von einem <lb n="ple_003.027"/> allgemeinen Begriff der Schönheit oder überhaupt einem ethischen oder <lb n="ple_003.028"/> ästhetischen Zweckprinzip aus, sondern er legt, wenn auch allgemeine, <lb n="ple_003.029"/> so doch rein sachliche, ja technische Gesichtspunkte zugrunde. Alle Kunst <lb n="ple_003.030"/> ist Nachahmung der Wirklichkeit. Ihre Gattungen unterscheiden sich auf <lb n="ple_003.031"/> dreierlei Weise voneinander: nach den Mitteln, dem Gegenstande und der <lb n="ple_003.032"/> Art der Nachahmung. Die ersteren trennen die Poesie als Ganzes von den <lb n="ple_003.033"/> übrigen Künsten, das zweite und dritte grenzen die verschiedenen Gattungen <lb n="ple_003.034"/> der Dichtkunst gegeneinander ab. Aristoleles analysiert nun diese einzelnen <lb n="ple_003.035"/> Gattungen unter den bezeichneten Gesichtspunkten und gewinnt <lb n="ple_003.036"/> auf diese Weise ein Bild von ihrer technischen Eigenart: er bestimmt <lb n="ple_003.037"/> in dem uns am besten erhaltenen Teile das Wesen der Tragödie nach <lb n="ple_003.038"/> ihrer Ausdehnung, dem Aufbau und seinen Teilen, den angewandten <lb n="ple_003.039"/> Kunstmitteln. Soweit er Werturteile sucht und ausspricht, leitet er sie <lb n="ple_003.040"/> von den allgemeinen Formen und technischen Bestimmungen ab, die <lb n="ple_003.041"/> er aus dieser analytischen Betrachtung gewonnen hat, so z. B. wenn er <lb n="ple_003.042"/> im 8. Kapitel diejenigen Tragödien verwirft, welche durch die bloße Einheit <lb n="ple_003.043"/> des Helden zusammengehalten sind, und dies Urteil aus der vorhergehenden </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [3/0017]
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noch dem Kritiker dienen; sie will nur Einsicht in das Wesen der Dichtkunst ple_003.002
sein. Freilich gerade dadurch wird sie mittelbar wiederum praktisch ple_003.003
wirksam: sie führt zu einem tieferen Verständnis wie der Poesie im Ganzen, ple_003.004
so auch der einzelnen Dichtungen; damit aber begründet sie eine tiefere ple_003.005
Kritik und vermag es wenigstens bisweilen, der dichterischen Produktion ple_003.006
selbst die Wege zu weisen.
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Dies ist der moderne Begriff einer wissenschaftlichen Poetik und er ple_003.008
ist es daher, der den folgenden Betrachtungen die Richtung geben muß.
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2. Geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Poetik. ple_003.010
Welches ist der Gang, den die wissenschaftliche Poetik zu nehmen hat? ple_003.011
Von welchen Grundlagen muß sie ausgehen, welchen Zielen soll sie zustreben? ple_003.012
Hierüber, wie über die Lehre vom Schönen und der Kunst überhaupt, ple_003.013
haben verschiedene Zeitalter und Denker sehr verschiedene Vorstellungen ple_003.014
gehabt.
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Die älteste und ehrwürdigste Poetik, die wir besitzen, die des Aristoteles, ple_003.016
zeigt, wiewohl sie uns in verstümmeltem Zustande überliefert ist, ple_003.017
doch deutlich genug eine ganz bestimmte Richtung und Methode. Sie ple_003.018
geht überall von der gegebenen Wirklichkeit aus, von den tatsächlich vorhandenen ple_003.019
und bekannten Dichtungen. Der Kreis der hellenischen Poesie, ple_003.020
aus dem der erste Ästhetiker der Weltgeschichte sein Material schöpft, ist ple_003.021
national und zeitlich begrenzt, aber freilich innerhalb dieser Grenzen unendlich ple_003.022
reich und mannigfaltig; und überall, nicht nur an den zahlreichen ple_003.023
Stellen, wo er sich auf bestimmte Dichtungen beruft, fühlen wir es durch, ple_003.024
daß diese Gedanken und Beobachtungen aus der vollen Anschauung eines ple_003.025
großen und reichen künstlerischen Lebens geschöpft sind.
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Dieses Material nun behandelt Aristoteles nicht etwa von einem ple_003.027
allgemeinen Begriff der Schönheit oder überhaupt einem ethischen oder ple_003.028
ästhetischen Zweckprinzip aus, sondern er legt, wenn auch allgemeine, ple_003.029
so doch rein sachliche, ja technische Gesichtspunkte zugrunde. Alle Kunst ple_003.030
ist Nachahmung der Wirklichkeit. Ihre Gattungen unterscheiden sich auf ple_003.031
dreierlei Weise voneinander: nach den Mitteln, dem Gegenstande und der ple_003.032
Art der Nachahmung. Die ersteren trennen die Poesie als Ganzes von den ple_003.033
übrigen Künsten, das zweite und dritte grenzen die verschiedenen Gattungen ple_003.034
der Dichtkunst gegeneinander ab. Aristoleles analysiert nun diese einzelnen ple_003.035
Gattungen unter den bezeichneten Gesichtspunkten und gewinnt ple_003.036
auf diese Weise ein Bild von ihrer technischen Eigenart: er bestimmt ple_003.037
in dem uns am besten erhaltenen Teile das Wesen der Tragödie nach ple_003.038
ihrer Ausdehnung, dem Aufbau und seinen Teilen, den angewandten ple_003.039
Kunstmitteln. Soweit er Werturteile sucht und ausspricht, leitet er sie ple_003.040
von den allgemeinen Formen und technischen Bestimmungen ab, die ple_003.041
er aus dieser analytischen Betrachtung gewonnen hat, so z. B. wenn er ple_003.042
im 8. Kapitel diejenigen Tragödien verwirft, welche durch die bloße Einheit ple_003.043
des Helden zusammengehalten sind, und dies Urteil aus der vorhergehenden
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