Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_161.001 ple_161.006 ple_161.001 ple_161.006 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0175" n="161"/><lb n="ple_161.001"/> umfangreich sein, nur dann wird sein Werk eine <hi rendition="#g">Dichtung,</hi> wenn der Stoff <lb n="ple_161.002"/> nicht mehr als Stoff hervortritt und sich nicht als Gegenstand der Belehrung, <lb n="ple_161.003"/> sei es technischer, sei es psychologischer Art, gibt, sondern einzig als <lb n="ple_161.004"/> Mittel, um die phantasiemäßige Anschauung lebendig und vollständig zu <lb n="ple_161.005"/> gestalten, auf der die dichterische und speziell epische Wirkung beruht.</p> <p><lb n="ple_161.006"/> Die großen Zeitromane Zolas verfolgen bekanntlich eine bestimmte <lb n="ple_161.007"/> gleichartige Technik; zum Untergrunde dient ihnen nicht nur im allgemeinen <lb n="ple_161.008"/> das soziale Leben des zweiten Kaiserreichs, sondern in jedem einzelnen derselben <lb n="ple_161.009"/> erwächst die Handlung aus einem bestimmten Berufskreise, und es <lb n="ple_161.010"/> wird dieser Kreis, es werden die einzelnen Tätigkeiten, die er umschließt, <lb n="ple_161.011"/> bis ins kleinste hinein verfolgt und geschildert. Eine Überfülle von Einzelheiten, <lb n="ple_161.012"/> die aus Beobachtung und Studium hervorgegangen und mit gewissenhaftestem <lb n="ple_161.013"/> Fleiße gesammelt sind, versetzen den Leser in die geschilderte <lb n="ple_161.014"/> Welt. Sie erfüllen uns zuweilen mit bewunderndem Erstaunen, oft freilich <lb n="ple_161.015"/> ermüden sie und lähmen den künstlerischen Genuß. Es gibt einen deutschen <lb n="ple_161.016"/> Roman ersten Ranges, der, um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, <lb n="ple_161.017"/> in auffallender Weise der Kunst Zolas vorgreift: Otto Ludwigs „Zwischen <lb n="ple_161.018"/> Himmel und Erde“. Wie bei Zola, so erwächst auch hier die äußere Handlung <lb n="ple_161.019"/> und die innere Entwicklung des Helden in stetem Zusammenhang <lb n="ple_161.020"/> mit seinem Gewerbe, dem des Schieferdeckers. Diese Tätigkeit wird uns <lb n="ple_161.021"/> bis in die kleinsten technischen Einzelheiten vorgeführt. Wir sehen, wie <lb n="ple_161.022"/> der Dachdecker sein Schwebegerüst baut, wie er es verwendet, welche besonderen <lb n="ple_161.023"/> Schwierigkeiten er überwinden muß. Aber von Anfang bis zu <lb n="ple_161.024"/> Ende ist auch für den Leser alles technische Detail nur ein Hilfsgerüst, <lb n="ple_161.025"/> um ihn zwischen Himmel und Erde hinaufzutragen in das Reich der Phantasie, <lb n="ple_161.026"/> wo nichts unanschaulich, nichts unverstanden, aber auch nichts ohne inneres <lb n="ple_161.027"/> Leben, ohne unmittelbare Erwärmung und Erleuchtung durch Gefühl und <lb n="ple_161.028"/> inneres Schauen bleibt. Die Berufsarbeit selbst wird zum Symbol des <lb n="ple_161.029"/> inneren Lebens, das sich in seiner sinnbildlichen Bedeutung immer deutlicher <lb n="ple_161.030"/> enthüllt. Solange er sein Gewissen belastet fühlt, vermag der Held <lb n="ple_161.031"/> den Turm nicht zu besteigen, auf dem der verbrecherische Bruder den <lb n="ple_161.032"/> Untergang gefunden hat. Als er, um seine mutige Rettungstat zu wagen, <lb n="ple_161.033"/> sich selbst überwindet, ist sein allzu empfindliches Gewissen wieder frei. <lb n="ple_161.034"/> Diese Dichtung ist ein weit reineres Kunstwerk als einer der großen Zolaschen <lb n="ple_161.035"/> Romane, weil hier Anschauungsstoff und geistiger Gehalt sich vollkommen <lb n="ple_161.036"/> decken, weil genau soviel Einzelheiten, die der Beobachtung und <lb n="ple_161.037"/> dem Studium entstammen, verwendet sind, wie die innere Entwicklung bedarf, <lb n="ple_161.038"/> nicht mehr und nicht weniger. Auch bei Zola tritt die symbolische Verwendung <lb n="ple_161.039"/> des äußeren Anschauungsstoffes und besonders des berufsmäßigen <lb n="ple_161.040"/> Milieus deutlich und bisweilen mit einer gewissen Großartigkeit hervor: <lb n="ple_161.041"/> die Lokomotive in der Bête humaine, die große Bergwerkspumpe im Germinal <lb n="ple_161.042"/> werden zu dämonischen Symbolen der vernichtenden Kräfte, die in der <lb n="ple_161.043"/> Arbeit selbst und in den Seelen der Menschen, die sie vollführen müssen, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [161/0175]
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umfangreich sein, nur dann wird sein Werk eine Dichtung, wenn der Stoff ple_161.002
nicht mehr als Stoff hervortritt und sich nicht als Gegenstand der Belehrung, ple_161.003
sei es technischer, sei es psychologischer Art, gibt, sondern einzig als ple_161.004
Mittel, um die phantasiemäßige Anschauung lebendig und vollständig zu ple_161.005
gestalten, auf der die dichterische und speziell epische Wirkung beruht.
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Die großen Zeitromane Zolas verfolgen bekanntlich eine bestimmte ple_161.007
gleichartige Technik; zum Untergrunde dient ihnen nicht nur im allgemeinen ple_161.008
das soziale Leben des zweiten Kaiserreichs, sondern in jedem einzelnen derselben ple_161.009
erwächst die Handlung aus einem bestimmten Berufskreise, und es ple_161.010
wird dieser Kreis, es werden die einzelnen Tätigkeiten, die er umschließt, ple_161.011
bis ins kleinste hinein verfolgt und geschildert. Eine Überfülle von Einzelheiten, ple_161.012
die aus Beobachtung und Studium hervorgegangen und mit gewissenhaftestem ple_161.013
Fleiße gesammelt sind, versetzen den Leser in die geschilderte ple_161.014
Welt. Sie erfüllen uns zuweilen mit bewunderndem Erstaunen, oft freilich ple_161.015
ermüden sie und lähmen den künstlerischen Genuß. Es gibt einen deutschen ple_161.016
Roman ersten Ranges, der, um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, ple_161.017
in auffallender Weise der Kunst Zolas vorgreift: Otto Ludwigs „Zwischen ple_161.018
Himmel und Erde“. Wie bei Zola, so erwächst auch hier die äußere Handlung ple_161.019
und die innere Entwicklung des Helden in stetem Zusammenhang ple_161.020
mit seinem Gewerbe, dem des Schieferdeckers. Diese Tätigkeit wird uns ple_161.021
bis in die kleinsten technischen Einzelheiten vorgeführt. Wir sehen, wie ple_161.022
der Dachdecker sein Schwebegerüst baut, wie er es verwendet, welche besonderen ple_161.023
Schwierigkeiten er überwinden muß. Aber von Anfang bis zu ple_161.024
Ende ist auch für den Leser alles technische Detail nur ein Hilfsgerüst, ple_161.025
um ihn zwischen Himmel und Erde hinaufzutragen in das Reich der Phantasie, ple_161.026
wo nichts unanschaulich, nichts unverstanden, aber auch nichts ohne inneres ple_161.027
Leben, ohne unmittelbare Erwärmung und Erleuchtung durch Gefühl und ple_161.028
inneres Schauen bleibt. Die Berufsarbeit selbst wird zum Symbol des ple_161.029
inneren Lebens, das sich in seiner sinnbildlichen Bedeutung immer deutlicher ple_161.030
enthüllt. Solange er sein Gewissen belastet fühlt, vermag der Held ple_161.031
den Turm nicht zu besteigen, auf dem der verbrecherische Bruder den ple_161.032
Untergang gefunden hat. Als er, um seine mutige Rettungstat zu wagen, ple_161.033
sich selbst überwindet, ist sein allzu empfindliches Gewissen wieder frei. ple_161.034
Diese Dichtung ist ein weit reineres Kunstwerk als einer der großen Zolaschen ple_161.035
Romane, weil hier Anschauungsstoff und geistiger Gehalt sich vollkommen ple_161.036
decken, weil genau soviel Einzelheiten, die der Beobachtung und ple_161.037
dem Studium entstammen, verwendet sind, wie die innere Entwicklung bedarf, ple_161.038
nicht mehr und nicht weniger. Auch bei Zola tritt die symbolische Verwendung ple_161.039
des äußeren Anschauungsstoffes und besonders des berufsmäßigen ple_161.040
Milieus deutlich und bisweilen mit einer gewissen Großartigkeit hervor: ple_161.041
die Lokomotive in der Bête humaine, die große Bergwerkspumpe im Germinal ple_161.042
werden zu dämonischen Symbolen der vernichtenden Kräfte, die in der ple_161.043
Arbeit selbst und in den Seelen der Menschen, die sie vollführen müssen,
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