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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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lauern. Auch bei Zola werden Handlungen, Wollen und Empfinden seiner ple_162.002
Menschen nur aus dem Einfluß ihrer Lebenskreise und ihrer Berufsarbeit ple_162.003
verständlich. Aber die Fülle des aufgehäuften und ausgebreiteten Details ple_162.004
geht weit über das künstlerische Bedürfnis, anzuschauen und zu verstehen, ple_162.005
hinaus und überschreitet den Kreis dessen, was für jene Symbolik verwertet ple_162.006
werden kann. So bleibt in all diesen Dichtungen ein starker prosaischer ple_162.007
Rest, und es mag dahin gestellt sein, ob das verfehlte Streben des Dichters ple_162.008
nach einer vermeinten Wissenschaftlichkeit die Schuld daran trägt, oder ob ple_162.009
die falsche Theorie nur entstanden ist, um die künstlerische Unzulänglichkeit ple_162.010
der M ethode zu rechtfertigen.

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Ähnlich wie die kleinere epische Erzählung zum Epos verhält sich ple_162.012
die Novelle zum Roman. Auch sie wurde, die ursprünglichste Form der ple_162.013
Prosadichtung, schon im Altertum gepflegt, und in der Renaissancezeit war ple_162.014
sie besonders auf romanischem Boden beliebt und gewürdigt. Seit der ple_162.015
Romantik ist sie in Deutschland immer mehr in den Vordergrund getreten; ple_162.016
neben dem Roman nimmt sie seit zwei Menschenaltern das Interesse des ple_162.017
literarischen Publikums zweifellos am stärksten in Anspruch.

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Fragt man nun nach dem Wesen der Novelle, so ist es gewiss, daß sie ple_162.019
sich nicht bloß durch die Ausdehnung vom Roman unterscheidet. Goethe ple_162.020
bezeichnete sie zu Eckermann (29. Januar 1827) mit einer sprachlich allerdings ple_162.021
übeln Wendung als "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit", und ple_162.022
Spielhagen charakterisiert sie (Beiträge S. 245) folgendermaßen: "Die Novelle ple_162.023
hat es mit fertigen Charakteren zu tun, die, durch eine besondere Verkettung ple_162.024
der Umstände und Verhältnisse, in einen interessanten Konflikt gebracht ple_162.025
werden, wodurch sie gezwungen sind, sich in ihrer allereigensten ple_162.026
Natur zu offenbaren, also, daß der Konflikt, der sonst Gott weiß wie hätte ple_162.027
verlaufen können, gerade diesen, durch die Eigentümlichkeit der engagierten ple_162.028
Charaktere bedingten und schlechterdings keinen anderen Ausgang nehmen ple_162.029
kann und muß."

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Will man das Wesen der Novelle richtig treffen, so wird man in dem ple_162.031
Goetheschen Satz das Wort "eine" besonders unterstreichen müssen. Denn ple_162.032
ihr Gegensatz zum Roman beruht in der Tat darauf, daß hier eine ple_162.033
strengere Einheit der Handlung nur ausnahmsweise vorhanden, im modernen ple_162.034
Bildungsroman sogar völlig unmöglich ist: denn die Entwicklung kann ple_162.035
sich immer nur durch eine Reihe von Handlungen und Ereignissen vollziehen. ple_162.036
Die Novelle dagegen wahrt die Einheit der Handlung, sie ist, ple_162.037
im Anschluß an Goethe gesprochen, nichts als die Erzählung einer Begebenheit. ple_162.038
Daher schließt sie Episoden, Parallelhandlungen und dergleichen ple_162.039
aus. Die ältere, namentlich die italienische Novelle sucht in der Tat nur ple_162.040
durch den Reiz der Begebenheit und die Anmut der Erzählungsweise zu ple_162.041
interessieren. Die neuere deutsche Novelle hat sich tiefere Aufgaben gestellt. ple_162.042
Seit Kleists Michael Kohlhaas ist es auch hier das psychologische

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lauern. Auch bei Zola werden Handlungen, Wollen und Empfinden seiner ple_162.002
Menschen nur aus dem Einfluß ihrer Lebenskreise und ihrer Berufsarbeit ple_162.003
verständlich. Aber die Fülle des aufgehäuften und ausgebreiteten Details ple_162.004
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Rest, und es mag dahin gestellt sein, ob das verfehlte Streben des Dichters ple_162.008
nach einer vermeinten Wissenschaftlichkeit die Schuld daran trägt, oder ob ple_162.009
die falsche Theorie nur entstanden ist, um die künstlerische Unzulänglichkeit ple_162.010
der M ethode zu rechtfertigen.

ple_162.011
Ähnlich wie die kleinere epische Erzählung zum Epos verhält sich ple_162.012
die Novelle zum Roman. Auch sie wurde, die ursprünglichste Form der ple_162.013
Prosadichtung, schon im Altertum gepflegt, und in der Renaissancezeit war ple_162.014
sie besonders auf romanischem Boden beliebt und gewürdigt. Seit der ple_162.015
Romantik ist sie in Deutschland immer mehr in den Vordergrund getreten; ple_162.016
neben dem Roman nimmt sie seit zwei Menschenaltern das Interesse des ple_162.017
literarischen Publikums zweifellos am stärksten in Anspruch.

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Fragt man nun nach dem Wesen der Novelle, so ist es gewiss, daß sie ple_162.019
sich nicht bloß durch die Ausdehnung vom Roman unterscheidet. Goethe ple_162.020
bezeichnete sie zu Eckermann (29. Januar 1827) mit einer sprachlich allerdings ple_162.021
übeln Wendung als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“, und ple_162.022
Spielhagen charakterisiert sie (Beiträge S. 245) folgendermaßen: „Die Novelle ple_162.023
hat es mit fertigen Charakteren zu tun, die, durch eine besondere Verkettung ple_162.024
der Umstände und Verhältnisse, in einen interessanten Konflikt gebracht ple_162.025
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Natur zu offenbaren, also, daß der Konflikt, der sonst Gott weiß wie hätte ple_162.027
verlaufen können, gerade diesen, durch die Eigentümlichkeit der engagierten ple_162.028
Charaktere bedingten und schlechterdings keinen anderen Ausgang nehmen ple_162.029
kann und muß.“

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Will man das Wesen der Novelle richtig treffen, so wird man in dem ple_162.031
Goetheschen Satz das Wort „eine“ besonders unterstreichen müssen. Denn ple_162.032
ihr Gegensatz zum Roman beruht in der Tat darauf, daß hier eine ple_162.033
strengere Einheit der Handlung nur ausnahmsweise vorhanden, im modernen ple_162.034
Bildungsroman sogar völlig unmöglich ist: denn die Entwicklung kann ple_162.035
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Die Novelle dagegen wahrt die Einheit der Handlung, sie ist, ple_162.037
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Daher schließt sie Episoden, Parallelhandlungen und dergleichen ple_162.039
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/176>, abgerufen am 21.11.2024.