Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_163.001 ple_163.022 ple_163.040 14. Dramatische Dichtung. In den Weihnachtstagen 1797 antwortete ple_163.041 ple_163.001 ple_163.022 ple_163.040 14. Dramatische Dichtung. In den Weihnachtstagen 1797 antwortete ple_163.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0177" n="163"/><lb n="ple_163.001"/> Interesse, das sie erwecken will; nicht die seltsame Verkettung äußerer Zufälle <lb n="ple_163.002"/> und Ereignisse, sondern eigenartige und problematische Vorgänge des <lb n="ple_163.003"/> inneren Lebens sind es, die unseren bedeutenden Novellisten zum Vorwurf <lb n="ple_163.004"/> dienen. Dabei ist die eigentliche Entwicklung des Charakters ausgeschlossen; <lb n="ple_163.005"/> sie gehört dem Roman an. Vielmehr kommt der fertige <lb n="ple_163.006"/> Charakter in einer Tat, einem entscheidenden Ereignis zum Ausdruck, und <lb n="ple_163.007"/> eben dieses Verhältnis bildet den Inhalt der Novelle. Sehr gut führt <lb n="ple_163.008"/> dies Mielcke aus (a. a. O. S. 354): „Von dem alten Novellenstil hat die <lb n="ple_163.009"/> moderne Novelle übernommen, eine einzelne ,wunderliche' Begebenheit <lb n="ple_163.010"/> auch jetzt noch als ihren Rohstoff zu betrachten. Aber sie erzählt sie nicht <lb n="ple_163.011"/> bloß und sie hüllt sie nicht allein in Stimmungsfarben. Das Seltsame der <lb n="ple_163.012"/> Tat setzt auch in den Charakteren ein Seltsames der Empfindung oder des <lb n="ple_163.013"/> Willens voraus. Die Romantiker sahen diesen psychologischen Untergrund <lb n="ple_163.014"/> gern als etwas Mystisches an und erzielten dadurch oft bedeutende Wirkungen. <lb n="ple_163.015"/> Die moderne Psychologie geht dem Mystischen nicht aus dem <lb n="ple_163.016"/> Wege, aber sie sucht es dafür natürlich zu deuten, den dunklen Kern der <lb n="ple_163.017"/> Seele gleichsam in seine einzelnen Elemente aufzulösen, und die moderne <lb n="ple_163.018"/> Novelle schloß sich ihr hierin an. Dadurch gewann sie den Hang zum <lb n="ple_163.019"/> Problematischen, sie baute absonderliche Begebenheiten aus absonderlichen <lb n="ple_163.020"/> Willensäußerungen auf und verwandte alle ihre Kunst darauf, für eine gespannte <lb n="ple_163.021"/> Situation eine möglichst überraschende Auflsösung zu finden.“</p> <p><lb n="ple_163.022"/> Auch auf das Milieu vermag die moderne Novelle nicht zu verzichten. <lb n="ple_163.023"/> Denn aus ihm wird das psychologisch Wunderbare ja zum größten <lb n="ple_163.024"/> Teil erst verständlich. Aber sie hat nicht Zeit und Raum, es eingehend <lb n="ple_163.025"/> zu schildern, sie kann es nur andeuten. Sie kann nur, wie Mielcke <lb n="ple_163.026"/> (S. 353) sagt, „durch starke Betonung des einzelnen ersetzen, was er <lb n="ple_163.027"/> an Fülle desselben nicht bieten kann, und aus dieser starken Betonung <lb n="ple_163.028"/> entsteht jener schwingende Zauber des Details, den wir Stimmung nennen. <lb n="ple_163.029"/> Die Gegenstände klingen in der Novelle, und ihr Klang durchzittert die <lb n="ple_163.030"/> Ereignisse, er dämpft oder erhöht ihre Wirkung, er vermählt sich mit dem <lb n="ple_163.031"/> seelischen Leben der Charaktere.“ Wie richtig dies ist, erkennen wir an <lb n="ple_163.032"/> vielen der Meisternovellen Heyses und Storms. So ist die Arrabiata ganz <lb n="ple_163.033"/> von dem Gluthauch südlicher, die Erzählung „Am toten See“ ganz von <lb n="ple_163.034"/> der stillen und innigen Melancholie nordischer Landschaft durchzittert, und <lb n="ple_163.035"/> in „der Stickerin von Treviso“ atmet der Geist der Frührenaissance. Ist <lb n="ple_163.036"/> das Milieu ein phantastisches oder ein in großen Zügen gezeichnetes geschichtliches <lb n="ple_163.037"/> Gemälde, so nähert sich die Novelle bisweilen dem Balladencharakter, <lb n="ple_163.038"/> besonders deutlich in einigen der schönsten Dichtungen Storms: <lb n="ple_163.039"/> so in Eekenhof und Aquis submersus.</p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_163.040"/> <hi rendition="#b">14. Dramatische Dichtung.</hi> </head> <p> In den Weihnachtstagen 1797 antwortete <lb n="ple_163.041"/> Schiller an Goethe auf die Übersendung des Aufsatzes, dessen Hauptstellen <lb n="ple_163.042"/> wir zu Anfang des vorigen Kapitels kennen gelernt haben: „Daß der <lb n="ple_163.043"/> Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [163/0177]
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Interesse, das sie erwecken will; nicht die seltsame Verkettung äußerer Zufälle ple_163.002
und Ereignisse, sondern eigenartige und problematische Vorgänge des ple_163.003
inneren Lebens sind es, die unseren bedeutenden Novellisten zum Vorwurf ple_163.004
dienen. Dabei ist die eigentliche Entwicklung des Charakters ausgeschlossen; ple_163.005
sie gehört dem Roman an. Vielmehr kommt der fertige ple_163.006
Charakter in einer Tat, einem entscheidenden Ereignis zum Ausdruck, und ple_163.007
eben dieses Verhältnis bildet den Inhalt der Novelle. Sehr gut führt ple_163.008
dies Mielcke aus (a. a. O. S. 354): „Von dem alten Novellenstil hat die ple_163.009
moderne Novelle übernommen, eine einzelne ,wunderliche' Begebenheit ple_163.010
auch jetzt noch als ihren Rohstoff zu betrachten. Aber sie erzählt sie nicht ple_163.011
bloß und sie hüllt sie nicht allein in Stimmungsfarben. Das Seltsame der ple_163.012
Tat setzt auch in den Charakteren ein Seltsames der Empfindung oder des ple_163.013
Willens voraus. Die Romantiker sahen diesen psychologischen Untergrund ple_163.014
gern als etwas Mystisches an und erzielten dadurch oft bedeutende Wirkungen. ple_163.015
Die moderne Psychologie geht dem Mystischen nicht aus dem ple_163.016
Wege, aber sie sucht es dafür natürlich zu deuten, den dunklen Kern der ple_163.017
Seele gleichsam in seine einzelnen Elemente aufzulösen, und die moderne ple_163.018
Novelle schloß sich ihr hierin an. Dadurch gewann sie den Hang zum ple_163.019
Problematischen, sie baute absonderliche Begebenheiten aus absonderlichen ple_163.020
Willensäußerungen auf und verwandte alle ihre Kunst darauf, für eine gespannte ple_163.021
Situation eine möglichst überraschende Auflsösung zu finden.“
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Auch auf das Milieu vermag die moderne Novelle nicht zu verzichten. ple_163.023
Denn aus ihm wird das psychologisch Wunderbare ja zum größten ple_163.024
Teil erst verständlich. Aber sie hat nicht Zeit und Raum, es eingehend ple_163.025
zu schildern, sie kann es nur andeuten. Sie kann nur, wie Mielcke ple_163.026
(S. 353) sagt, „durch starke Betonung des einzelnen ersetzen, was er ple_163.027
an Fülle desselben nicht bieten kann, und aus dieser starken Betonung ple_163.028
entsteht jener schwingende Zauber des Details, den wir Stimmung nennen. ple_163.029
Die Gegenstände klingen in der Novelle, und ihr Klang durchzittert die ple_163.030
Ereignisse, er dämpft oder erhöht ihre Wirkung, er vermählt sich mit dem ple_163.031
seelischen Leben der Charaktere.“ Wie richtig dies ist, erkennen wir an ple_163.032
vielen der Meisternovellen Heyses und Storms. So ist die Arrabiata ganz ple_163.033
von dem Gluthauch südlicher, die Erzählung „Am toten See“ ganz von ple_163.034
der stillen und innigen Melancholie nordischer Landschaft durchzittert, und ple_163.035
in „der Stickerin von Treviso“ atmet der Geist der Frührenaissance. Ist ple_163.036
das Milieu ein phantastisches oder ein in großen Zügen gezeichnetes geschichtliches ple_163.037
Gemälde, so nähert sich die Novelle bisweilen dem Balladencharakter, ple_163.038
besonders deutlich in einigen der schönsten Dichtungen Storms: ple_163.039
so in Eekenhof und Aquis submersus.
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14. Dramatische Dichtung. In den Weihnachtstagen 1797 antwortete ple_163.041
Schiller an Goethe auf die Übersendung des Aufsatzes, dessen Hauptstellen ple_163.042
wir zu Anfang des vorigen Kapitels kennen gelernt haben: „Daß der ple_163.043
Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker die
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