Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_164.001 ple_164.013 ple_164.001 ple_164.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0178" n="164"/><lb n="ple_164.001"/> seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe, leuchtet mir sehr <lb n="ple_164.002"/> ein.“ „Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische <lb n="ple_164.003"/> bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stille zu stehen. Nach <lb n="ple_164.004"/> meinem Bedünken liegt viel in diesem Unterschied. Beweg ich mich um <lb n="ple_164.005"/> die Begebenheit, die mir nicht entlaufen kann, so kann ich einen ungleichen <lb n="ple_164.006"/> Schritt halten, ich kann nach meinem subjektiven Bedürfnis auch <lb n="ple_164.007"/> länger oder kürzer verweilen, kann Rückschritte machen oder Vorgriffe tun <lb n="ple_164.008"/> u. s. f. Bewegt sich die Begebenheit vor mir, so bin ich streng an die <lb n="ple_164.009"/> sinnliche Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit, es <lb n="ple_164.010"/> entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir, ich muß immer <lb n="ple_164.011"/> beim Objekt bleiben, alles Zurücksehen, alles Nachdenken ist mir versagt, <lb n="ple_164.012"/> weil ich einer fremden Gewalt folge.“</p> <p><lb n="ple_164.013"/> Das Drama also ist Gegenwartskunst: auf der Illusion der Gegenwart, <lb n="ple_164.014"/> auf dem Miterleben der dargestellten Vorgänge beruht alle dramatische <lb n="ple_164.015"/> Wirkung. Ungemildert durch das Gefühl des Zeitabstandes, der das Vergangene <lb n="ple_164.016"/> bei noch so lebhafter Vorstellung in die Ferne rückt, folgt unser <lb n="ple_164.017"/> Affekt der Handlung mit der ganzen Lebhaftigkeit und Stärke, welche <lb n="ple_164.018"/> gegenwärtiges Geschehen, Handeln und Erleiden zu entfesseln vermag. <lb n="ple_164.019"/> Mitleid und Furcht, aber auch Bewunderung und Hoffnung, Sympathie <lb n="ple_164.020"/> und Abneigung erwachen mächtiger und ausschließlicher. „Der zuschauende <lb n="ple_164.021"/> Hörer muß leidenschaftlich folgen.“ Er ist ganz durch die schnelle Folge <lb n="ple_164.022"/> dessen, was sich vor seinen Augen abspielt, in Anspruch genommen und <lb n="ple_164.023"/> findet, solange die dramatische Wirkung dauert, keine Zeit zu ruhigem Verweilen <lb n="ple_164.024"/> und Betrachten, keine Zeit, rückblickend zu vergleichen und zu <lb n="ple_164.025"/> erwägen, ja nicht einmal Zeit, die Gegenwart, die rasch in die Zukunft <lb n="ple_164.026"/> weiter schreitet, nach allen ihren Momenten zu überschauen. Nur das <lb n="ple_164.027"/> Wesentlichste und Wichtigste fällt ihm ins Auge, nur dies vermag er im <lb n="ple_164.028"/> unaufhaltsamen Fortschritt der Handlung aufzunehmen; wie für die epische <lb n="ple_164.029"/> Dichtung beschauliche Breite, so ist für die dramatische Kunst Konzentration <lb n="ple_164.030"/> auf die Hauptmomente des Geschehens das innerste Prinzip. Daher die Unbedenklichkeit <lb n="ple_164.031"/> in den Voraussetzungen, zum Teil auch in der Motivierung <lb n="ple_164.032"/> von Einzelheiten und Äußerlichkeiten der Handlung, die man bei Schiller <lb n="ple_164.033"/> oft bemerkt hat, die aber bei Shakespeare und Kleist ebenso ausgeprägt <lb n="ple_164.034"/> ist. Der Epiker hat wie seine Zuhörer Zeit, den seelischen Vorgang und <lb n="ple_164.035"/> das äußere Bild in seinen Einzelheiten mit und neben einander zu betrachten; <lb n="ple_164.036"/> der miterlebende dramatische Schöpfer hat wie der Zuschauer, den <lb n="ple_164.037"/> er fortreißt, dazu nicht die Ruhe. Seine Aufmerksamkeit ist auf die Hauptmomente <lb n="ple_164.038"/> der Handlung gerichtet, und diese sind wesentlich seelischer <lb n="ple_164.039"/> Natur. Nur ihr äußerer Ausdruck als Wort, Gebärde und Tat wird von <lb n="ple_164.040"/> diesem Interesse notwendig mitergriffen. Aber das Gegenständliche an <lb n="ple_164.041"/> sich und noch mehr die äußere Umwelt seiner Personen, das Landschaftliche <lb n="ple_164.042"/> u. s. w. bleibt, sobald die Handlung lebhaft wird, unter der Schwelle <lb n="ple_164.043"/> des Bewußtseins oder wird, wo sie zögert und den Zuschauer ruhiger läßt, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [164/0178]
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seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe, leuchtet mir sehr ple_164.002
ein.“ „Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische ple_164.003
bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stille zu stehen. Nach ple_164.004
meinem Bedünken liegt viel in diesem Unterschied. Beweg ich mich um ple_164.005
die Begebenheit, die mir nicht entlaufen kann, so kann ich einen ungleichen ple_164.006
Schritt halten, ich kann nach meinem subjektiven Bedürfnis auch ple_164.007
länger oder kürzer verweilen, kann Rückschritte machen oder Vorgriffe tun ple_164.008
u. s. f. Bewegt sich die Begebenheit vor mir, so bin ich streng an die ple_164.009
sinnliche Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit, es ple_164.010
entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir, ich muß immer ple_164.011
beim Objekt bleiben, alles Zurücksehen, alles Nachdenken ist mir versagt, ple_164.012
weil ich einer fremden Gewalt folge.“
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Das Drama also ist Gegenwartskunst: auf der Illusion der Gegenwart, ple_164.014
auf dem Miterleben der dargestellten Vorgänge beruht alle dramatische ple_164.015
Wirkung. Ungemildert durch das Gefühl des Zeitabstandes, der das Vergangene ple_164.016
bei noch so lebhafter Vorstellung in die Ferne rückt, folgt unser ple_164.017
Affekt der Handlung mit der ganzen Lebhaftigkeit und Stärke, welche ple_164.018
gegenwärtiges Geschehen, Handeln und Erleiden zu entfesseln vermag. ple_164.019
Mitleid und Furcht, aber auch Bewunderung und Hoffnung, Sympathie ple_164.020
und Abneigung erwachen mächtiger und ausschließlicher. „Der zuschauende ple_164.021
Hörer muß leidenschaftlich folgen.“ Er ist ganz durch die schnelle Folge ple_164.022
dessen, was sich vor seinen Augen abspielt, in Anspruch genommen und ple_164.023
findet, solange die dramatische Wirkung dauert, keine Zeit zu ruhigem Verweilen ple_164.024
und Betrachten, keine Zeit, rückblickend zu vergleichen und zu ple_164.025
erwägen, ja nicht einmal Zeit, die Gegenwart, die rasch in die Zukunft ple_164.026
weiter schreitet, nach allen ihren Momenten zu überschauen. Nur das ple_164.027
Wesentlichste und Wichtigste fällt ihm ins Auge, nur dies vermag er im ple_164.028
unaufhaltsamen Fortschritt der Handlung aufzunehmen; wie für die epische ple_164.029
Dichtung beschauliche Breite, so ist für die dramatische Kunst Konzentration ple_164.030
auf die Hauptmomente des Geschehens das innerste Prinzip. Daher die Unbedenklichkeit ple_164.031
in den Voraussetzungen, zum Teil auch in der Motivierung ple_164.032
von Einzelheiten und Äußerlichkeiten der Handlung, die man bei Schiller ple_164.033
oft bemerkt hat, die aber bei Shakespeare und Kleist ebenso ausgeprägt ple_164.034
ist. Der Epiker hat wie seine Zuhörer Zeit, den seelischen Vorgang und ple_164.035
das äußere Bild in seinen Einzelheiten mit und neben einander zu betrachten; ple_164.036
der miterlebende dramatische Schöpfer hat wie der Zuschauer, den ple_164.037
er fortreißt, dazu nicht die Ruhe. Seine Aufmerksamkeit ist auf die Hauptmomente ple_164.038
der Handlung gerichtet, und diese sind wesentlich seelischer ple_164.039
Natur. Nur ihr äußerer Ausdruck als Wort, Gebärde und Tat wird von ple_164.040
diesem Interesse notwendig mitergriffen. Aber das Gegenständliche an ple_164.041
sich und noch mehr die äußere Umwelt seiner Personen, das Landschaftliche ple_164.042
u. s. w. bleibt, sobald die Handlung lebhaft wird, unter der Schwelle ple_164.043
des Bewußtseins oder wird, wo sie zögert und den Zuschauer ruhiger läßt,
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