Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_169.001 ple_169.031 ple_169.040 ple_169.001 ple_169.031 ple_169.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0183" n="169"/><lb n="ple_169.001"/> Wandlung in die aufsteigende Entwicklung fällt, wo sie im <lb n="ple_169.002"/> Mittelpunkt des psychologischen Werdens steht, da vermag sie allerdings <lb n="ple_169.003"/> den wesentlichen Inhalt dieser Entwicklung zusammenfassend zu veranschaulichen. <lb n="ple_169.004"/> So in Shakespeares Heinrich IV., wo der Tod des Königs, so in <lb n="ple_169.005"/> Don Carlos, wo der Opfertod Posas, so in Kleists Prinzen von Homburg, <lb n="ple_169.006"/> wo der richterliche Eingriff des Kurfürsten jedesmal ein entscheidendes <lb n="ple_169.007"/> Ereignis bildet, das die Wandlung des Helden herbeiführt. Auch Calderons <lb n="ple_169.008"/> <hi rendition="#g">Leben ein Traum</hi> und Grillparzers Gegenstück dazu veranschaulichen mit <lb n="ple_169.009"/> mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit eine solche Charakterwandlung. Aber <lb n="ple_169.010"/> diese Dichtungen bilden Ausnahmen; denn nur ausnahmsweise wird ein <lb n="ple_169.011"/> einziges Ereignis ein für allemal die fernere Charaktergestaltung entscheiden. <lb n="ple_169.012"/> Daher begnügen sich auch die größten Dramatiker und tiefsten Charakterzeichner <lb n="ple_169.013"/> wie Shakespeare und Schiller, von den Alten zu schweigen, zumeist <lb n="ple_169.014"/> damit, den fertigen Charakter in einer entscheidenden Handlung sich vor <lb n="ple_169.015"/> unseren Augen darstellen zu lassen. Schon viel, wenn der Dichter gelegentlich <lb n="ple_169.016"/> einmal auf die frühere Entwicklung seines Helden ein belehrendes <lb n="ple_169.017"/> Streiflicht wirft, wie ein solches auf Wallensteins Jugend aus Gordons <lb n="ple_169.018"/> Worten fällt: <lb n="ple_169.019"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Wohl dreißig Jahre sind's. Da strebte schon</l><lb n="ple_169.020"/><l>Der kühne Mut im zwanzigjähr'gen Jüngling.</l><lb n="ple_169.021"/><l>Ernst über seine Jahre war sein Sinn,</l><lb n="ple_169.022"/><l>Auf große Dinge männlich nur gerichtet.</l><lb n="ple_169.023"/><l>Durch unsre Mitte ging er stillen Geists,</l><lb n="ple_169.024"/><l>Sich selber die Gesellschaft; nicht die Lust,</l><lb n="ple_169.025"/><l>Die kindische, der Knaben zog ihn an;</l><lb n="ple_169.026"/><l>Doch oft ergriff's ihn plötzlich wundersam,</l><lb n="ple_169.027"/><l>Und der geheimnisvollen Brust entfuhr,</l><lb n="ple_169.028"/><l>Sinnvoll und leuchtend, ein Gedankenstrahl,</l><lb n="ple_169.029"/><l>Daß wir uns staunend ansahn, nicht recht wissend,</l><lb n="ple_169.030"/><l>Ob Wahnsinn, ob ein Gott aus ihm gesprochen.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_169.031"/> Einen tieferen Einblick in das Werden der Menschen vermag uns <lb n="ple_169.032"/> der Dramatiker schon deshalb nicht zu eröffnen, weil er die Einwirkung <lb n="ple_169.033"/> des Milieus im besten Falle in wenigen großen Zügen, niemals aber wie <lb n="ple_169.034"/> der Epiker in den intimeren Einzelheiten entwickeln kann. Im Fortschritt <lb n="ple_169.035"/> der Handlung fehlt ihm wie uns die Zeit, diese zu beachten. Die Menschen <lb n="ple_169.036"/> des Dramatikers stehen als gewordene und ausgeprägte Charaktere <lb n="ple_169.037"/> vor uns, wie die, denen wir im persönlichen Leben begegnen. Was sie <lb n="ple_169.038"/> sind, interessiert uns in erster Linie; wie sie es geworden, höchstens in <lb n="ple_169.039"/> zweiter; und was sie sind, zeigt uns ihr Handeln. —</p> <p><lb n="ple_169.040"/> Haben wir hiermit das Wesen der dramatischen Dichtungsform in <lb n="ple_169.041"/> seinen allgemeinen Zügen erkannt, so erhält sie nun ihre charakteristische <lb n="ple_169.042"/> Ausprägung erst durch ein Moment, das den beiden anderen Gattungen <lb n="ple_169.043"/> gänzlich fehlt: die Beziehung auf die Bühne. Zwar auch dem Lyriker <lb n="ple_169.044"/> und, wenn wir von dem Prosaroman absehen, dem Epiker schwebt die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [169/0183]
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Wandlung in die aufsteigende Entwicklung fällt, wo sie im ple_169.002
Mittelpunkt des psychologischen Werdens steht, da vermag sie allerdings ple_169.003
den wesentlichen Inhalt dieser Entwicklung zusammenfassend zu veranschaulichen. ple_169.004
So in Shakespeares Heinrich IV., wo der Tod des Königs, so in ple_169.005
Don Carlos, wo der Opfertod Posas, so in Kleists Prinzen von Homburg, ple_169.006
wo der richterliche Eingriff des Kurfürsten jedesmal ein entscheidendes ple_169.007
Ereignis bildet, das die Wandlung des Helden herbeiführt. Auch Calderons ple_169.008
Leben ein Traum und Grillparzers Gegenstück dazu veranschaulichen mit ple_169.009
mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit eine solche Charakterwandlung. Aber ple_169.010
diese Dichtungen bilden Ausnahmen; denn nur ausnahmsweise wird ein ple_169.011
einziges Ereignis ein für allemal die fernere Charaktergestaltung entscheiden. ple_169.012
Daher begnügen sich auch die größten Dramatiker und tiefsten Charakterzeichner ple_169.013
wie Shakespeare und Schiller, von den Alten zu schweigen, zumeist ple_169.014
damit, den fertigen Charakter in einer entscheidenden Handlung sich vor ple_169.015
unseren Augen darstellen zu lassen. Schon viel, wenn der Dichter gelegentlich ple_169.016
einmal auf die frühere Entwicklung seines Helden ein belehrendes ple_169.017
Streiflicht wirft, wie ein solches auf Wallensteins Jugend aus Gordons ple_169.018
Worten fällt: ple_169.019
Wohl dreißig Jahre sind's. Da strebte schon ple_169.020
Der kühne Mut im zwanzigjähr'gen Jüngling. ple_169.021
Ernst über seine Jahre war sein Sinn, ple_169.022
Auf große Dinge männlich nur gerichtet. ple_169.023
Durch unsre Mitte ging er stillen Geists, ple_169.024
Sich selber die Gesellschaft; nicht die Lust, ple_169.025
Die kindische, der Knaben zog ihn an; ple_169.026
Doch oft ergriff's ihn plötzlich wundersam, ple_169.027
Und der geheimnisvollen Brust entfuhr, ple_169.028
Sinnvoll und leuchtend, ein Gedankenstrahl, ple_169.029
Daß wir uns staunend ansahn, nicht recht wissend, ple_169.030
Ob Wahnsinn, ob ein Gott aus ihm gesprochen.
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Einen tieferen Einblick in das Werden der Menschen vermag uns ple_169.032
der Dramatiker schon deshalb nicht zu eröffnen, weil er die Einwirkung ple_169.033
des Milieus im besten Falle in wenigen großen Zügen, niemals aber wie ple_169.034
der Epiker in den intimeren Einzelheiten entwickeln kann. Im Fortschritt ple_169.035
der Handlung fehlt ihm wie uns die Zeit, diese zu beachten. Die Menschen ple_169.036
des Dramatikers stehen als gewordene und ausgeprägte Charaktere ple_169.037
vor uns, wie die, denen wir im persönlichen Leben begegnen. Was sie ple_169.038
sind, interessiert uns in erster Linie; wie sie es geworden, höchstens in ple_169.039
zweiter; und was sie sind, zeigt uns ihr Handeln. —
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Haben wir hiermit das Wesen der dramatischen Dichtungsform in ple_169.041
seinen allgemeinen Zügen erkannt, so erhält sie nun ihre charakteristische ple_169.042
Ausprägung erst durch ein Moment, das den beiden anderen Gattungen ple_169.043
gänzlich fehlt: die Beziehung auf die Bühne. Zwar auch dem Lyriker ple_169.044
und, wenn wir von dem Prosaroman absehen, dem Epiker schwebt die
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