Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_172.001 ple_172.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0186" n="172"/><lb n="ple_172.001"/> erdacht, nicht auf dem Theater erschaut, sondern aus einer idealen Wirklichkeit <lb n="ple_172.002"/> auf die Bühne übertragen. Goethe dagegen ist ein Typus der entgegengesetzten <lb n="ple_172.003"/> Art. Die Theaterphantasie ist bei ihm, trotz seiner jugendlichen <lb n="ple_172.004"/> Neigung für das Puppentheater, auffallend schwach entwickelt und tritt <lb n="ple_172.005"/> fast nur da gleichsam als Lückenbüßerin ein, wo ihm die dichterische Gestaltungskraft <lb n="ple_172.006"/> versagt: im letzten Akt des Clavigo, an vielen Stellen des zweiten <lb n="ple_172.007"/> Teils des Faust, der in dieser Hinsicht einen starken Gegensatz zum ersten <lb n="ple_172.008"/> bildet, in den Festspielen und Operntexten. So erklärt sich denn auch die <lb n="ple_172.009"/> verhältnismäßig geringe Bühnenwirkung, die von den meisten seiner Dramen <lb n="ple_172.010"/> ausgeht. Schon die glänzenden und lebendigen Szenen, die der Götz vor <lb n="ple_172.011"/> uns entrollt, sind Bilder des Lebens, nicht der Bühne. Nun aber betrachte <lb n="ple_172.012"/> man den 4. und 5. Akt der Iphigenie, besonders aber den Tasso. Wie <lb n="ple_172.013"/> wenig vertragen die fein abgetönten Farben, die intimen Reize der seelischen <lb n="ple_172.014"/> Erlebnisse, die hier in tief innerlicher Gestaltung Leben gewonnen <lb n="ple_172.015"/> haben, das grelle Licht der Bühne mit seinen scharfen Kontrasten. Eben <lb n="ple_172.016"/> weil der Dichter die Wirklichkeit zu fein und zu echt sieht, versagt sich <lb n="ple_172.017"/> ihm die szenische Wirkung. Man vergleiche nur die Herausforderung zum <lb n="ple_172.018"/> Zweikampf im 2. Akt des Tasso mit der ähnlichen Szene bei Schiller, wo <lb n="ple_172.019"/> Don Carlos den Herzog Alba zum Zweikampf zwingt. Daß Antonio auf <lb n="ple_172.020"/> die Herausforderung nicht eingeht, auch in der Notwehr nicht, ist sicherlich <lb n="ple_172.021"/> das Wahrscheinlichere, der Wirklichkeit entsprechende; aber dadurch, <lb n="ple_172.022"/> daß es nicht zum Zweikampf kommt, bleibt die ganze Szene und namentlich <lb n="ple_172.023"/> das Auftreten des Herzogs ohne stärkere Bühnenwirkung, während im <lb n="ple_172.024"/> Don Carlos Alba gleichfalls den Degen zieht und die Königin nunmehr <lb n="ple_172.025"/> die Kämpfenden trennt: gröber und unwahrscheinlicher, aber beträchtlich <lb n="ple_172.026"/> wirksamer. Auch daß am Schluß, wo Tasso die Prinzessin umarmt, nur <lb n="ple_172.027"/> die nächsten Freunde den leidenschaftlich Rasenden überraschen, bringt <lb n="ple_172.028"/> die Schwere der Situation im Bühnenbilde nicht hinlänglich zur Geltung, <lb n="ple_172.029"/> daher man so oft eine naive Verwunderung über das Unbedeutende der <lb n="ple_172.030"/> Katastrophe aussprechen hört. Wie anders weiß uns wiederum Schiller <lb n="ple_172.031"/> die Gefahr anschaulich zu machen, in der sein Carlos schwebt, als seine <lb n="ple_172.032"/> Unterredung mit der Königin jäh unterbrochen wird und der spanische <lb n="ple_172.033"/> König an der Spitze seines ganzen Hofes, von allen seinen Granden <lb n="ple_172.034"/> gefolgt, die Bühne betritt. Der Begriff des <hi rendition="#g">Lesedramas</hi> tritt uns hier in <lb n="ple_172.035"/> seiner eigentlichen Bedeutung entgegen: es ist eine dramatisch empfundene, <lb n="ple_172.036"/> aber nicht für die Bühne gedachte Dichtung, zu intim und innerlich, um <lb n="ple_172.037"/> auf dem Theater wirksam zu werden; gleichwohl kann sie echt dramatisches <lb n="ple_172.038"/> Leben enthalten und bei der Lektüre oder beim Vorlesen zum <lb n="ple_172.039"/> intensiven Miterleben zwingen, wie das beim Tasso der Fall ist. Im gewöhnlichen <lb n="ple_172.040"/> Sprachgebrauch wird der Ausdruck freilich mit einer gewissen <lb n="ple_172.041"/> Geringschätzung gebraucht und auf Dichtungen angewendet, denen das <lb n="ple_172.042"/> dramatische, vielleicht das dichterische Leben überhaupt fehlt, wie Uhlands <lb n="ple_172.043"/> Herzog Ernst und seine zahlreichen Nachfolger.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [172/0186]
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erdacht, nicht auf dem Theater erschaut, sondern aus einer idealen Wirklichkeit ple_172.002
auf die Bühne übertragen. Goethe dagegen ist ein Typus der entgegengesetzten ple_172.003
Art. Die Theaterphantasie ist bei ihm, trotz seiner jugendlichen ple_172.004
Neigung für das Puppentheater, auffallend schwach entwickelt und tritt ple_172.005
fast nur da gleichsam als Lückenbüßerin ein, wo ihm die dichterische Gestaltungskraft ple_172.006
versagt: im letzten Akt des Clavigo, an vielen Stellen des zweiten ple_172.007
Teils des Faust, der in dieser Hinsicht einen starken Gegensatz zum ersten ple_172.008
bildet, in den Festspielen und Operntexten. So erklärt sich denn auch die ple_172.009
verhältnismäßig geringe Bühnenwirkung, die von den meisten seiner Dramen ple_172.010
ausgeht. Schon die glänzenden und lebendigen Szenen, die der Götz vor ple_172.011
uns entrollt, sind Bilder des Lebens, nicht der Bühne. Nun aber betrachte ple_172.012
man den 4. und 5. Akt der Iphigenie, besonders aber den Tasso. Wie ple_172.013
wenig vertragen die fein abgetönten Farben, die intimen Reize der seelischen ple_172.014
Erlebnisse, die hier in tief innerlicher Gestaltung Leben gewonnen ple_172.015
haben, das grelle Licht der Bühne mit seinen scharfen Kontrasten. Eben ple_172.016
weil der Dichter die Wirklichkeit zu fein und zu echt sieht, versagt sich ple_172.017
ihm die szenische Wirkung. Man vergleiche nur die Herausforderung zum ple_172.018
Zweikampf im 2. Akt des Tasso mit der ähnlichen Szene bei Schiller, wo ple_172.019
Don Carlos den Herzog Alba zum Zweikampf zwingt. Daß Antonio auf ple_172.020
die Herausforderung nicht eingeht, auch in der Notwehr nicht, ist sicherlich ple_172.021
das Wahrscheinlichere, der Wirklichkeit entsprechende; aber dadurch, ple_172.022
daß es nicht zum Zweikampf kommt, bleibt die ganze Szene und namentlich ple_172.023
das Auftreten des Herzogs ohne stärkere Bühnenwirkung, während im ple_172.024
Don Carlos Alba gleichfalls den Degen zieht und die Königin nunmehr ple_172.025
die Kämpfenden trennt: gröber und unwahrscheinlicher, aber beträchtlich ple_172.026
wirksamer. Auch daß am Schluß, wo Tasso die Prinzessin umarmt, nur ple_172.027
die nächsten Freunde den leidenschaftlich Rasenden überraschen, bringt ple_172.028
die Schwere der Situation im Bühnenbilde nicht hinlänglich zur Geltung, ple_172.029
daher man so oft eine naive Verwunderung über das Unbedeutende der ple_172.030
Katastrophe aussprechen hört. Wie anders weiß uns wiederum Schiller ple_172.031
die Gefahr anschaulich zu machen, in der sein Carlos schwebt, als seine ple_172.032
Unterredung mit der Königin jäh unterbrochen wird und der spanische ple_172.033
König an der Spitze seines ganzen Hofes, von allen seinen Granden ple_172.034
gefolgt, die Bühne betritt. Der Begriff des Lesedramas tritt uns hier in ple_172.035
seiner eigentlichen Bedeutung entgegen: es ist eine dramatisch empfundene, ple_172.036
aber nicht für die Bühne gedachte Dichtung, zu intim und innerlich, um ple_172.037
auf dem Theater wirksam zu werden; gleichwohl kann sie echt dramatisches ple_172.038
Leben enthalten und bei der Lektüre oder beim Vorlesen zum ple_172.039
intensiven Miterleben zwingen, wie das beim Tasso der Fall ist. Im gewöhnlichen ple_172.040
Sprachgebrauch wird der Ausdruck freilich mit einer gewissen ple_172.041
Geringschätzung gebraucht und auf Dichtungen angewendet, denen das ple_172.042
dramatische, vielleicht das dichterische Leben überhaupt fehlt, wie Uhlands ple_172.043
Herzog Ernst und seine zahlreichen Nachfolger.
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