Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_174.001 ple_174.018 ple_174.001 ple_174.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0188" n="174"/><lb n="ple_174.001"/> Atem kommen, sich auf der erreichten Stimmung gleichsam ausruhen und <lb n="ple_174.002"/> wiegen kann. Es ist viel zu selten anerkannt worden, wie stark sich <lb n="ple_174.003"/> Schiller auf diese Kunst versteht, mit welcher Kraft und Tiefe der Stimmung <lb n="ple_174.004"/> er besonders seine Katastrophen vorzubereiten und durchzuführen <lb n="ple_174.005"/> weiß. Man denke an die unheimliche Schwüle der Dämmerstunde, in der <lb n="ple_174.006"/> Ferdinand mit dem Gift zu Luisen kommt, oder an die Trimeterszene <lb n="ple_174.007"/> in der Braut von Messina, in welcher Don Cäsar seinen Entschluß, zu <lb n="ple_174.008"/> sterben, dem Chor verkündet! und mit welcher Feinheit und Weichheit <lb n="ple_174.009"/> der Farbe zeigt uns der 5. Akt von Wallensteins Tod den Helden ganz <lb n="ple_174.010"/> von menschlichen Empfindungen erfüllt, dem verlorenen Lebensstern, dem <lb n="ple_174.011"/> toten Freunde nachtrauernd! Alle diese Szenen sind im starken Gegensatz <lb n="ple_174.012"/> zu der leidenschaftlich bewegten Handlung entworfen und empfunden, die <lb n="ple_174.013"/> kurz vorher noch die Bühne erfüllte und gleich darauf zur entscheidenden <lb n="ple_174.014"/> Katastrophe einsetzt. Selbst dem leidenschaftlich fortreißenden Temperament <lb n="ple_174.015"/> Shakespeares und Kleists fehlen solche Stellen nicht: Ophelias Tod <lb n="ple_174.016"/> und die Mondnacht in Belmont, die Szene unter dem Hollunderbusch und <lb n="ple_174.017"/> so manche Stellen der Penthesilea zeigen das.</p> <p><lb n="ple_174.018"/> Freilich erst da, wo sie sich mit der Musik verbindet, kommt diese <lb n="ple_174.019"/> lyrische Wirkung zu voller Stärke. Die Chöre und Melodramen der antiken <lb n="ple_174.020"/> Tragödie zeigen das. Die Oper ist als eine eigene Gattung ganz <lb n="ple_174.021"/> und gar aus dem Gefühl hierfür hervorgegangen; sie beruht auf dem Bestreben, <lb n="ple_174.022"/> dramatisch gegebene Situationen lyrisch zu verwerten und auszuschöpfen. <lb n="ple_174.023"/> Allein sie verfuhr dabei höchst einseitig. Das dramatische <lb n="ple_174.024"/> Element vernachlässigte sie oder scheute sich doch niemals, es zu beeinträchtigen, <lb n="ple_174.025"/> und zwar nicht bloß um der lyrisch musikalischen Wirkung <lb n="ple_174.026"/> willen, sondern auch zugunsten eines unkünstlerischen Beiwerks dekorativer <lb n="ple_174.027"/> und balletmäßiger Effekte. Seit Gluck freilich machte sich in der <lb n="ple_174.028"/> deutschen Oper eine Gegenströmung geltend, und auf dem Gipfelpunkt <lb n="ple_174.029"/> einer längeren Entwicklungsreihe unternahm es Richard Wagner, das musikalische <lb n="ple_174.030"/> Drama im vollen Sinne des Worts an Stelle der Oper zu setzen: <lb n="ple_174.031"/> eine Erneuerung der antiken Tragödie mit ihren dramatischen und lyrischen <lb n="ple_174.032"/> Wirkungen, auf die Mittel des modernen Orchesters der modernen Bühne <lb n="ple_174.033"/> gestützt. Aus dem unkünstlerischen Gemengsel der alten Oper gestaltete <lb n="ple_174.034"/> er ein konsequentes Zusammenwirken mimischer, orchestraler und musikalisch-deklamatorischer <lb n="ple_174.035"/> Künste. Seiner durchaus dramatischen Gestaltungskraft, <lb n="ple_174.036"/> seiner ungewöhnlich originellen Bühnenphantasie ist es in den meisten <lb n="ple_174.037"/> seiner Werke tatsächlich gelungen, ein solches Zusammenwirken zustande <lb n="ple_174.038"/> zu bringen, während das dramatische Element das herrschende blieb, — <lb n="ple_174.039"/> nur etwa im Tristan überwiegt das lyrische, seinerseits zur höchsten Wirkung <lb n="ple_174.040"/> gesteigert. Freilich im Laufe eines Menschenalters hat es sich bereits gezeigt, <lb n="ple_174.041"/> daß nur die singuläre Begabung eines einzelnen schöpferischen Künstlers ein <lb n="ple_174.042"/> solches Kunstwerk ermöglicht hat. Eine Neugeburt der ganzen Bühnenkunst, <lb n="ple_174.043"/> wie sie Wagner erhoffte, ist aus seiner Wirksamkeit nicht hervorgegangen.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [174/0188]
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Atem kommen, sich auf der erreichten Stimmung gleichsam ausruhen und ple_174.002
wiegen kann. Es ist viel zu selten anerkannt worden, wie stark sich ple_174.003
Schiller auf diese Kunst versteht, mit welcher Kraft und Tiefe der Stimmung ple_174.004
er besonders seine Katastrophen vorzubereiten und durchzuführen ple_174.005
weiß. Man denke an die unheimliche Schwüle der Dämmerstunde, in der ple_174.006
Ferdinand mit dem Gift zu Luisen kommt, oder an die Trimeterszene ple_174.007
in der Braut von Messina, in welcher Don Cäsar seinen Entschluß, zu ple_174.008
sterben, dem Chor verkündet! und mit welcher Feinheit und Weichheit ple_174.009
der Farbe zeigt uns der 5. Akt von Wallensteins Tod den Helden ganz ple_174.010
von menschlichen Empfindungen erfüllt, dem verlorenen Lebensstern, dem ple_174.011
toten Freunde nachtrauernd! Alle diese Szenen sind im starken Gegensatz ple_174.012
zu der leidenschaftlich bewegten Handlung entworfen und empfunden, die ple_174.013
kurz vorher noch die Bühne erfüllte und gleich darauf zur entscheidenden ple_174.014
Katastrophe einsetzt. Selbst dem leidenschaftlich fortreißenden Temperament ple_174.015
Shakespeares und Kleists fehlen solche Stellen nicht: Ophelias Tod ple_174.016
und die Mondnacht in Belmont, die Szene unter dem Hollunderbusch und ple_174.017
so manche Stellen der Penthesilea zeigen das.
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Freilich erst da, wo sie sich mit der Musik verbindet, kommt diese ple_174.019
lyrische Wirkung zu voller Stärke. Die Chöre und Melodramen der antiken ple_174.020
Tragödie zeigen das. Die Oper ist als eine eigene Gattung ganz ple_174.021
und gar aus dem Gefühl hierfür hervorgegangen; sie beruht auf dem Bestreben, ple_174.022
dramatisch gegebene Situationen lyrisch zu verwerten und auszuschöpfen. ple_174.023
Allein sie verfuhr dabei höchst einseitig. Das dramatische ple_174.024
Element vernachlässigte sie oder scheute sich doch niemals, es zu beeinträchtigen, ple_174.025
und zwar nicht bloß um der lyrisch musikalischen Wirkung ple_174.026
willen, sondern auch zugunsten eines unkünstlerischen Beiwerks dekorativer ple_174.027
und balletmäßiger Effekte. Seit Gluck freilich machte sich in der ple_174.028
deutschen Oper eine Gegenströmung geltend, und auf dem Gipfelpunkt ple_174.029
einer längeren Entwicklungsreihe unternahm es Richard Wagner, das musikalische ple_174.030
Drama im vollen Sinne des Worts an Stelle der Oper zu setzen: ple_174.031
eine Erneuerung der antiken Tragödie mit ihren dramatischen und lyrischen ple_174.032
Wirkungen, auf die Mittel des modernen Orchesters der modernen Bühne ple_174.033
gestützt. Aus dem unkünstlerischen Gemengsel der alten Oper gestaltete ple_174.034
er ein konsequentes Zusammenwirken mimischer, orchestraler und musikalisch-deklamatorischer ple_174.035
Künste. Seiner durchaus dramatischen Gestaltungskraft, ple_174.036
seiner ungewöhnlich originellen Bühnenphantasie ist es in den meisten ple_174.037
seiner Werke tatsächlich gelungen, ein solches Zusammenwirken zustande ple_174.038
zu bringen, während das dramatische Element das herrschende blieb, — ple_174.039
nur etwa im Tristan überwiegt das lyrische, seinerseits zur höchsten Wirkung ple_174.040
gesteigert. Freilich im Laufe eines Menschenalters hat es sich bereits gezeigt, ple_174.041
daß nur die singuläre Begabung eines einzelnen schöpferischen Künstlers ein ple_174.042
solches Kunstwerk ermöglicht hat. Eine Neugeburt der ganzen Bühnenkunst, ple_174.043
wie sie Wagner erhoffte, ist aus seiner Wirksamkeit nicht hervorgegangen.
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