Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_175.001 ple_175.020 ple_175.001 ple_175.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0189" n="175"/> <p><lb n="ple_175.001"/> Die lyrische Wirkung auf der Bühne ist nun freilich auch ohne Musik, <lb n="ple_175.002"/> oder wenigstens ohne entscheidende Mitwirkung des musikalischen Elements, <lb n="ple_175.003"/> durch das gesprochene Wort und die dekorative Kunst allein zu erreichen. <lb n="ple_175.004"/> Und es ist daher zu begreifen, daß moderne Dichter sich der Aufgabe <lb n="ple_175.005"/> zugewandt haben, unterstützt von feinfühligen Regisseuren und phantasievollen <lb n="ple_175.006"/> Theatertechnikern, die Kunst der Stimmung auf der Bühne zur Herrschaft <lb n="ple_175.007"/> zu bringen. Am ausgesprochensten ist dieses Streben bei Maeterlinck, <lb n="ple_175.008"/> dessen Bühnenkunst auf jede eigentliche Handlung, auf jeden Ansatz zur <lb n="ple_175.009"/> dramatischen Charakteristik verzichtet und ganz darauf gerichtet ist, den <lb n="ple_175.010"/> Stimmungsgehalt einer dargestellten Situation, bisweilen auch einer Reihe <lb n="ple_175.011"/> von solchen, durch die Künste der Bühne zur Geltung zu bringen. Es <lb n="ple_175.012"/> ist ihm dies auch zweifellos in einigen seiner Stücke gelungen, und es <lb n="ple_175.013"/> geht von solchen Bühnendichtungen eine starke, wenn auch rein momentane <lb n="ple_175.014"/> Wirkung aus, aber sie ist durchaus opernhaft, und es bleibt bei der Gedankenarmut <lb n="ple_175.015"/> und der absichtlich gesuchten sprachlichen Simplizität dieser Werke <lb n="ple_175.016"/> kein Eindruck zurück, der uns um eine echte Dichtung bereichern könnte. <lb n="ple_175.017"/> Es sind nur Elemente einer solchen, was wir empfangen und mitnehmen, <lb n="ple_175.018"/> ein schattenhaftes Spiel, kein wirklich gestaltetes Kunstwerk ist es, was an <lb n="ple_175.019"/> unseren Augen vorüberzieht.</p> <p><lb n="ple_175.020"/> Zu den Dichtern, die mit einem ausgesprochenen Bühnensinn eine <lb n="ple_175.021"/> poetische Begabung verbinden und denen gleichwohl das dramatische <lb n="ple_175.022"/> Temperament abgeht, gehört auch Gerhart Hauptmann. Seine Dichtungen <lb n="ple_175.023"/> sind entweder lyrisch oder episch empfunden, aber ein eigentümlicher Theaterinstinkt <lb n="ple_175.024"/> treibt ihn immer wieder zur Bühne und weiß durch starke äußere <lb n="ple_175.025"/> Effekte das fehlende dramatische Leben zu ersetzen. Wo es wesentlich <lb n="ple_175.026"/> Stimmungsgemälde, lyrisch empfundene Bühnenbilder sind, die er uns vorführt, <lb n="ple_175.027"/> empfinden wir immerhin den Hauch echter Poesie, wenn auch kein <lb n="ple_175.028"/> dramatisches Leben. So ergreift uns in Hanneles Himmelfahrt das Leiden <lb n="ple_175.029"/> und der Traum eines sterbenden Kindes, in einigen Szenen der versunkenen <lb n="ple_175.030"/> Glocke das phantastische Spiel der Naturgeister. Wo jedoch der Dichter <lb n="ple_175.031"/> es unternimmt, auf die Bühne zu verpflanzen, was einer episch gestaltenden <lb n="ple_175.032"/> Phantasie allein eignet, wo ihm die Handlung ganz und gar aus dem <lb n="ple_175.033"/> Milieu hervorwächst, wo statt eines wollenden und handelnden Helden <lb n="ple_175.034"/> eine leidende, von Instinkten bewegte Masse Träger der Entwicklung ist, <lb n="ple_175.035"/> da verläßt ihn die dichterische Wirkung und er vermag sie nur durch die <lb n="ple_175.036"/> stärksten äußeren Effektmittel zu ersetzen. Klagende Frauen, wimmernde <lb n="ple_175.037"/> Kinder, Schüsse, ein plötzlicher Todesfall: dergleichen versagt auf der <lb n="ple_175.038"/> Bühne nie. Und es sind wesentlich solche Mittel, denen <hi rendition="#g">die Weber</hi> ihren <lb n="ple_175.039"/> ungewöhnlichen Erfolg verdanken; — hinzu kommt freilich noch die werbende <lb n="ple_175.040"/> Kraft des sozialen Grundgedankens, der aber keineswegs künstlerisch <lb n="ple_175.041"/> vertieft erscheint. Bezeichnend ist es, daß der Florian Geyer, der mit denselben <lb n="ple_175.042"/> Mitteln zu wirken sucht, dem aber die Aktualität des Weberstoffes <lb n="ple_175.043"/> fehlt, nirgends Fuß gefaßt hat. Und nicht wesentlich anders steht es da, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [175/0189]
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Die lyrische Wirkung auf der Bühne ist nun freilich auch ohne Musik, ple_175.002
oder wenigstens ohne entscheidende Mitwirkung des musikalischen Elements, ple_175.003
durch das gesprochene Wort und die dekorative Kunst allein zu erreichen. ple_175.004
Und es ist daher zu begreifen, daß moderne Dichter sich der Aufgabe ple_175.005
zugewandt haben, unterstützt von feinfühligen Regisseuren und phantasievollen ple_175.006
Theatertechnikern, die Kunst der Stimmung auf der Bühne zur Herrschaft ple_175.007
zu bringen. Am ausgesprochensten ist dieses Streben bei Maeterlinck, ple_175.008
dessen Bühnenkunst auf jede eigentliche Handlung, auf jeden Ansatz zur ple_175.009
dramatischen Charakteristik verzichtet und ganz darauf gerichtet ist, den ple_175.010
Stimmungsgehalt einer dargestellten Situation, bisweilen auch einer Reihe ple_175.011
von solchen, durch die Künste der Bühne zur Geltung zu bringen. Es ple_175.012
ist ihm dies auch zweifellos in einigen seiner Stücke gelungen, und es ple_175.013
geht von solchen Bühnendichtungen eine starke, wenn auch rein momentane ple_175.014
Wirkung aus, aber sie ist durchaus opernhaft, und es bleibt bei der Gedankenarmut ple_175.015
und der absichtlich gesuchten sprachlichen Simplizität dieser Werke ple_175.016
kein Eindruck zurück, der uns um eine echte Dichtung bereichern könnte. ple_175.017
Es sind nur Elemente einer solchen, was wir empfangen und mitnehmen, ple_175.018
ein schattenhaftes Spiel, kein wirklich gestaltetes Kunstwerk ist es, was an ple_175.019
unseren Augen vorüberzieht.
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Zu den Dichtern, die mit einem ausgesprochenen Bühnensinn eine ple_175.021
poetische Begabung verbinden und denen gleichwohl das dramatische ple_175.022
Temperament abgeht, gehört auch Gerhart Hauptmann. Seine Dichtungen ple_175.023
sind entweder lyrisch oder episch empfunden, aber ein eigentümlicher Theaterinstinkt ple_175.024
treibt ihn immer wieder zur Bühne und weiß durch starke äußere ple_175.025
Effekte das fehlende dramatische Leben zu ersetzen. Wo es wesentlich ple_175.026
Stimmungsgemälde, lyrisch empfundene Bühnenbilder sind, die er uns vorführt, ple_175.027
empfinden wir immerhin den Hauch echter Poesie, wenn auch kein ple_175.028
dramatisches Leben. So ergreift uns in Hanneles Himmelfahrt das Leiden ple_175.029
und der Traum eines sterbenden Kindes, in einigen Szenen der versunkenen ple_175.030
Glocke das phantastische Spiel der Naturgeister. Wo jedoch der Dichter ple_175.031
es unternimmt, auf die Bühne zu verpflanzen, was einer episch gestaltenden ple_175.032
Phantasie allein eignet, wo ihm die Handlung ganz und gar aus dem ple_175.033
Milieu hervorwächst, wo statt eines wollenden und handelnden Helden ple_175.034
eine leidende, von Instinkten bewegte Masse Träger der Entwicklung ist, ple_175.035
da verläßt ihn die dichterische Wirkung und er vermag sie nur durch die ple_175.036
stärksten äußeren Effektmittel zu ersetzen. Klagende Frauen, wimmernde ple_175.037
Kinder, Schüsse, ein plötzlicher Todesfall: dergleichen versagt auf der ple_175.038
Bühne nie. Und es sind wesentlich solche Mittel, denen die Weber ihren ple_175.039
ungewöhnlichen Erfolg verdanken; — hinzu kommt freilich noch die werbende ple_175.040
Kraft des sozialen Grundgedankens, der aber keineswegs künstlerisch ple_175.041
vertieft erscheint. Bezeichnend ist es, daß der Florian Geyer, der mit denselben ple_175.042
Mitteln zu wirken sucht, dem aber die Aktualität des Weberstoffes ple_175.043
fehlt, nirgends Fuß gefaßt hat. Und nicht wesentlich anders steht es da,
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