Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_177.001 ple_177.027 ple_177.001 ple_177.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0191" n="177"/> <p><lb n="ple_177.001"/> Die älteren Dramen, klassische sowohl wie moderne, führen uns zumeist <lb n="ple_177.002"/> eine Handlung in ihrem ganzen wesentlichen Verlauf vor. Sie nehmen, <lb n="ple_177.003"/> wie das nicht anders möglich ist, bestimmte Anfangsglieder und gegebene <lb n="ple_177.004"/> Situationen als Voraussetzungen auf, aber auf dieser in der Exposition gegebenen <lb n="ple_177.005"/> Voraussetzung schürzen sie den Knoten vor unseren Augen, dessen <lb n="ple_177.006"/> Lösung der Schluß des Dramas bildet. Nur einige wenige Dramen der <lb n="ple_177.007"/> Weltliteratur sind anders komponiert: der Knoten ist vor Beginn der Handlung <lb n="ple_177.008"/> geschürzt, die Verwicklung gegeben, und das Drama bringt nur die <lb n="ple_177.009"/> Lösung. Schritt für Schritt wird die Vergangenheit enthüllt, die Spannung <lb n="ple_177.010"/> des Zuschauers richtet sich nicht sowohl auf das, was geschieht, als auf <lb n="ple_177.011"/> das, was längst geschehen ist, und die dramatische Steigerung beruht <lb n="ple_177.012"/> darauf, daß die Vergangenheit immer klarer hervortritt, zugleich aber auch <lb n="ple_177.013"/> in ihrer unheilvollen Bedeutung für die Gegenwart immer deutlicher erkannt <lb n="ple_177.014"/> wird. Die vollständige Enthüllung bedingt zugleich die Katastrophe. Es ist <lb n="ple_177.015"/> bekanntlich der König Ödipus, der diesen Typus dramatischer Komposition <lb n="ple_177.016"/> geschaffen hat; nach ihm gebildet ist die Braut von Messina, und ihr folgen <lb n="ple_177.017"/> wiederum — wenn auch in weitem Wertabstand — die Schicksalsdramen <lb n="ple_177.018"/> des beginnenden 19. Jahrhunderts, am deutlichsten Müllners Schuld. Aber <lb n="ple_177.019"/> in all diesen Enthüllungsdramen handelt es sich um sehr greifbare äußere <lb n="ple_177.020"/> Taten und Schicksale, um alte Verschuldungen, die das Geheimnis deckt <lb n="ple_177.021"/> und die Sühne fordern, sobald sie ans Tageslicht kommen. Die Robustizität, <lb n="ple_177.022"/> fast möchte man sagen, die Brutalität des Geschehenen, der Tatsachen, <lb n="ple_177.023"/> die aus der Vergangenheit hervor die Gegenwart bedrohen, ist im König <lb n="ple_177.024"/> Ödipus bis zu einer kaum erträglichen Stärke geführt, in der Braut von <lb n="ple_177.025"/> Messina zwar gemildert aber eben dadurch phantastischer und unwahrscheinlicher <lb n="ple_177.026"/> geworden.</p> <p><lb n="ple_177.027"/> Die Form der Enthüllungstragödie hat sich Ibsen angeeignet, aber er <lb n="ple_177.028"/> hat sie im höchsten Maße verfeinert, auf das psychologische Geschehen, die <lb n="ple_177.029"/> innere Entwicklung übertragen und dadurch im modernen Sinne lebendig gemacht: <lb n="ple_177.030"/> auf diese Weise hat er das Mittel gefunden, um eine innere Entwicklung <lb n="ple_177.031"/> dramatisch zu gestalten. Was wir erleben, was wir mit atemloser Spannung <lb n="ple_177.032"/> auf der Bühne sehen, ist immer nur vergangene Seelengeschichte, die in <lb n="ple_177.033"/> einem entscheidenden Augenblick enthüllt und dadurch wieder zur Gegenwart <lb n="ple_177.034"/> wird, zur tragischen Gegenwart, denn sie führt fast stets eine unvermeidliche <lb n="ple_177.035"/> Katastrophe herbei wie in Nora und Rosmersholm, oder erklärt <lb n="ple_177.036"/> dieselbe doch, wie in den Gespenstern. Daß freilich an der vollen Anschaulichkeit, <lb n="ple_177.037"/> mit der eine innere Entwicklung im Roman vor unser geistiges <lb n="ple_177.038"/> Auge treten kann, immerhin etwas fehlt, ist nicht zu leugnen. Die Umwandlung <lb n="ple_177.039"/> Rebekkas müssen wir einfach glauben, und Frau Alwings Empfinden <lb n="ple_177.040"/> dem ungeliebten Gatten und dem geliebten Freunde gegenüber ist keineswegs <lb n="ple_177.041"/> in allen seinen Fasern dargelegt. Dafür aber gewinnt der Dichter <lb n="ple_177.042"/> den Reiz eines wirklich dramatischen Geschehens, das in dem Vorgang der <lb n="ple_177.043"/> Enthüllung liegt, und eine dramatische Macht der Katastrophe, die im Roman </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [177/0191]
ple_177.001
Die älteren Dramen, klassische sowohl wie moderne, führen uns zumeist ple_177.002
eine Handlung in ihrem ganzen wesentlichen Verlauf vor. Sie nehmen, ple_177.003
wie das nicht anders möglich ist, bestimmte Anfangsglieder und gegebene ple_177.004
Situationen als Voraussetzungen auf, aber auf dieser in der Exposition gegebenen ple_177.005
Voraussetzung schürzen sie den Knoten vor unseren Augen, dessen ple_177.006
Lösung der Schluß des Dramas bildet. Nur einige wenige Dramen der ple_177.007
Weltliteratur sind anders komponiert: der Knoten ist vor Beginn der Handlung ple_177.008
geschürzt, die Verwicklung gegeben, und das Drama bringt nur die ple_177.009
Lösung. Schritt für Schritt wird die Vergangenheit enthüllt, die Spannung ple_177.010
des Zuschauers richtet sich nicht sowohl auf das, was geschieht, als auf ple_177.011
das, was längst geschehen ist, und die dramatische Steigerung beruht ple_177.012
darauf, daß die Vergangenheit immer klarer hervortritt, zugleich aber auch ple_177.013
in ihrer unheilvollen Bedeutung für die Gegenwart immer deutlicher erkannt ple_177.014
wird. Die vollständige Enthüllung bedingt zugleich die Katastrophe. Es ist ple_177.015
bekanntlich der König Ödipus, der diesen Typus dramatischer Komposition ple_177.016
geschaffen hat; nach ihm gebildet ist die Braut von Messina, und ihr folgen ple_177.017
wiederum — wenn auch in weitem Wertabstand — die Schicksalsdramen ple_177.018
des beginnenden 19. Jahrhunderts, am deutlichsten Müllners Schuld. Aber ple_177.019
in all diesen Enthüllungsdramen handelt es sich um sehr greifbare äußere ple_177.020
Taten und Schicksale, um alte Verschuldungen, die das Geheimnis deckt ple_177.021
und die Sühne fordern, sobald sie ans Tageslicht kommen. Die Robustizität, ple_177.022
fast möchte man sagen, die Brutalität des Geschehenen, der Tatsachen, ple_177.023
die aus der Vergangenheit hervor die Gegenwart bedrohen, ist im König ple_177.024
Ödipus bis zu einer kaum erträglichen Stärke geführt, in der Braut von ple_177.025
Messina zwar gemildert aber eben dadurch phantastischer und unwahrscheinlicher ple_177.026
geworden.
ple_177.027
Die Form der Enthüllungstragödie hat sich Ibsen angeeignet, aber er ple_177.028
hat sie im höchsten Maße verfeinert, auf das psychologische Geschehen, die ple_177.029
innere Entwicklung übertragen und dadurch im modernen Sinne lebendig gemacht: ple_177.030
auf diese Weise hat er das Mittel gefunden, um eine innere Entwicklung ple_177.031
dramatisch zu gestalten. Was wir erleben, was wir mit atemloser Spannung ple_177.032
auf der Bühne sehen, ist immer nur vergangene Seelengeschichte, die in ple_177.033
einem entscheidenden Augenblick enthüllt und dadurch wieder zur Gegenwart ple_177.034
wird, zur tragischen Gegenwart, denn sie führt fast stets eine unvermeidliche ple_177.035
Katastrophe herbei wie in Nora und Rosmersholm, oder erklärt ple_177.036
dieselbe doch, wie in den Gespenstern. Daß freilich an der vollen Anschaulichkeit, ple_177.037
mit der eine innere Entwicklung im Roman vor unser geistiges ple_177.038
Auge treten kann, immerhin etwas fehlt, ist nicht zu leugnen. Die Umwandlung ple_177.039
Rebekkas müssen wir einfach glauben, und Frau Alwings Empfinden ple_177.040
dem ungeliebten Gatten und dem geliebten Freunde gegenüber ist keineswegs ple_177.041
in allen seinen Fasern dargelegt. Dafür aber gewinnt der Dichter ple_177.042
den Reiz eines wirklich dramatischen Geschehens, das in dem Vorgang der ple_177.043
Enthüllung liegt, und eine dramatische Macht der Katastrophe, die im Roman
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |