Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_179.001 ple_179.018 ple_179.038 Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. -- Ohne Handlung kann es ple_179.039 keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (aneu men praxeos ouk an genoito tragodia, ple_179.040 aneu de ethon genoit' an). 1) ple_179.041
Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile ple_179.042 der Tragödie: Fabel, Charaktere, Gedanken, das Anschauungsbild auf der Bühne, ple_179.043 sprachlicher Ausdruck, musikalische Komposition. ple_179.001 ple_179.018 ple_179.038 Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. — Ohne Handlung kann es ple_179.039 keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (ἄνευ μὲν πράξεως οὐκ ἄν γένοιτο τραγῳδία, ple_179.040 ἄνευ δὲ ἠθῶν γένοιτ' ἄν). 1) ple_179.041
Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile ple_179.042 der Tragödie: Fabel, Charaktere, Gedanken, das Anschauungsbild auf der Bühne, ple_179.043 sprachlicher Ausdruck, musikalische Komposition. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0193" n="179"/><lb n="ple_179.001"/> Geschmacksurteil und zwar steht dasselbe durchaus im Einklang mit der <lb n="ple_179.002"/> überlieferten Praxis der griechischen Tragödie. Die großen attischen Tragiker <lb n="ple_179.003"/> suchen ihre Wirkung nicht durch tiefe Einblicke in das Innenleben <lb n="ple_179.004"/> ihrer Personen, noch durch feinere Ausgestaltung individueller Charaktere <lb n="ple_179.005"/> zu erreichen. Die Charakteristik bleibt durchweg im Typischen, wie das <lb n="ple_179.006"/> denn auch bei einer dramatischen Kunst, deren Stoffe ausschließlich <lb n="ple_179.007"/> mythischer Natur sind, nicht wohl anders sein kann. Dafür interessieren <lb n="ple_179.008"/> sie ihr Publikum durch die Ausgestaltung der Handlungen, durch die <lb n="ple_179.009"/> Macht der Situation, die sie zu erfinden oder auszuwählen wissen, und die <lb n="ple_179.010"/> zwingende Verkettung der Taten und Umstände, die zur tragischen Katastrophe <lb n="ple_179.011"/> führen. Nicht mit Unrecht hat man im König Ödipus den Höhepunkt <lb n="ple_179.012"/> antiker Technik gesehen. Zugleich kommt es besonders darauf an, <lb n="ple_179.013"/> die Situationen und Entwicklungen in künstlerischer Weise zu verwerten, <lb n="ple_179.014"/> in sprachlicher Hinsicht den rhetorisch dialektischen Charakter, den die <lb n="ple_179.015"/> Griechen so liebten, in musikalischer den Stimmungsgehalt zu vollem Ausdruck <lb n="ple_179.016"/> zu bringen. Eine spannende und erschütternde Begebenheit in kunstvollster <lb n="ple_179.017"/> Form darzustellen, das ist Ziel und Wesen der griechischen Tragödie.<note xml:id="ple_179_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_179.041"/> Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile <lb n="ple_179.042"/> der Tragödie: Fabel, Charaktere, Gedanken, das Anschauungsbild auf der Bühne, <lb n="ple_179.043"/> sprachlicher Ausdruck, musikalische Komposition.</note> </p> <p><lb n="ple_179.018"/> Noch ausschließlicher trägt die klassische Dichtung der Franzosen <lb n="ple_179.019"/> den Charakter einer Formenkunst. Die Freude an der Schönheit des <lb n="ple_179.020"/> Sprachklangs, die allen romanischen Völkern gemeinsam ist, der Sinn für <lb n="ple_179.021"/> eine zugleich nüchterne und doch grandiose Regelmäßigkeit des Baus, <lb n="ple_179.022"/> der dem französischen Geschmack eignet, sucht hier Befriedigung. Es ist <lb n="ple_179.023"/> kein Zweifel, daß diese Kunst der antiken näher steht als der Geist der <lb n="ple_179.024"/> germanischen Dramen, der bei Shakespeare zum Ausdruck kam und der <lb n="ple_179.025"/> auch Lessing umschwebte, als er es unternahm, das deutsche tragische <lb n="ple_179.026"/> Theater zu begründen. Der Hamburgische Dramaturg befand sich also <lb n="ple_179.027"/> im Irrtum, wenn er glaubte, diese deutsche Kunst auf die Antike gründen <lb n="ple_179.028"/> und zugleich die klassisch französische Dichtung ablehnen zu können. <lb n="ple_179.029"/> Wie der germanische Kunstgeist, wo er zu echtem und reinem Ausdruck <lb n="ple_179.030"/> kommt, überall dem Charakteristischen zustrebt, so tritt auch bei <lb n="ple_179.031"/> Shakespeare das Interesse für die Charaktere, für das psychologische Geschehen <lb n="ple_179.032"/> weit stärker hervor, als das für die Kunstmäßigkeit der Form oder <lb n="ple_179.033"/> einer raffiniert gestalteten Handlung, und daß auch Lessing den Hauptwert <lb n="ple_179.034"/> auf die Charaktere legt, ergibt sich nicht nur aus Dramen, wie Minna <lb n="ple_179.035"/> von Barnhelm und Nathan dem Weisen, sondern auch aus vielen theoretischen <lb n="ple_179.036"/> Erörterungen in der Dramaturgie. So z. B. wenn er vom historischen <lb n="ple_179.037"/> Drama verlangt, daß dem Dichter die Charaktere heilig seien, mit den <note xml:id="ple_178_2b" prev="#ple_178_2a" place="foot" n="2)"><lb n="ple_179.038"/> Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. — Ohne Handlung kann es <lb n="ple_179.039"/> keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (ἄνευ μὲν πράξεως οὐκ ἄν γένοιτο τραγῳδία, <lb n="ple_179.040"/> ἄνευ δὲ ἠθῶν γένοιτ' ἄν).</note> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [179/0193]
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Geschmacksurteil und zwar steht dasselbe durchaus im Einklang mit der ple_179.002
überlieferten Praxis der griechischen Tragödie. Die großen attischen Tragiker ple_179.003
suchen ihre Wirkung nicht durch tiefe Einblicke in das Innenleben ple_179.004
ihrer Personen, noch durch feinere Ausgestaltung individueller Charaktere ple_179.005
zu erreichen. Die Charakteristik bleibt durchweg im Typischen, wie das ple_179.006
denn auch bei einer dramatischen Kunst, deren Stoffe ausschließlich ple_179.007
mythischer Natur sind, nicht wohl anders sein kann. Dafür interessieren ple_179.008
sie ihr Publikum durch die Ausgestaltung der Handlungen, durch die ple_179.009
Macht der Situation, die sie zu erfinden oder auszuwählen wissen, und die ple_179.010
zwingende Verkettung der Taten und Umstände, die zur tragischen Katastrophe ple_179.011
führen. Nicht mit Unrecht hat man im König Ödipus den Höhepunkt ple_179.012
antiker Technik gesehen. Zugleich kommt es besonders darauf an, ple_179.013
die Situationen und Entwicklungen in künstlerischer Weise zu verwerten, ple_179.014
in sprachlicher Hinsicht den rhetorisch dialektischen Charakter, den die ple_179.015
Griechen so liebten, in musikalischer den Stimmungsgehalt zu vollem Ausdruck ple_179.016
zu bringen. Eine spannende und erschütternde Begebenheit in kunstvollster ple_179.017
Form darzustellen, das ist Ziel und Wesen der griechischen Tragödie. 1)
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Noch ausschließlicher trägt die klassische Dichtung der Franzosen ple_179.019
den Charakter einer Formenkunst. Die Freude an der Schönheit des ple_179.020
Sprachklangs, die allen romanischen Völkern gemeinsam ist, der Sinn für ple_179.021
eine zugleich nüchterne und doch grandiose Regelmäßigkeit des Baus, ple_179.022
der dem französischen Geschmack eignet, sucht hier Befriedigung. Es ist ple_179.023
kein Zweifel, daß diese Kunst der antiken näher steht als der Geist der ple_179.024
germanischen Dramen, der bei Shakespeare zum Ausdruck kam und der ple_179.025
auch Lessing umschwebte, als er es unternahm, das deutsche tragische ple_179.026
Theater zu begründen. Der Hamburgische Dramaturg befand sich also ple_179.027
im Irrtum, wenn er glaubte, diese deutsche Kunst auf die Antike gründen ple_179.028
und zugleich die klassisch französische Dichtung ablehnen zu können. ple_179.029
Wie der germanische Kunstgeist, wo er zu echtem und reinem Ausdruck ple_179.030
kommt, überall dem Charakteristischen zustrebt, so tritt auch bei ple_179.031
Shakespeare das Interesse für die Charaktere, für das psychologische Geschehen ple_179.032
weit stärker hervor, als das für die Kunstmäßigkeit der Form oder ple_179.033
einer raffiniert gestalteten Handlung, und daß auch Lessing den Hauptwert ple_179.034
auf die Charaktere legt, ergibt sich nicht nur aus Dramen, wie Minna ple_179.035
von Barnhelm und Nathan dem Weisen, sondern auch aus vielen theoretischen ple_179.036
Erörterungen in der Dramaturgie. So z. B. wenn er vom historischen ple_179.037
Drama verlangt, daß dem Dichter die Charaktere heilig seien, mit den 2)
1) ple_179.041
Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile ple_179.042
der Tragödie: Fabel, Charaktere, Gedanken, das Anschauungsbild auf der Bühne, ple_179.043
sprachlicher Ausdruck, musikalische Komposition.
2) ple_179.038
Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. — Ohne Handlung kann es ple_179.039
keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (ἄνευ μὲν πράξεως οὐκ ἄν γένοιτο τραγῳδία, ple_179.040
ἄνευ δὲ ἠθῶν γένοιτ' ἄν).
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