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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Geschmacksurteil und zwar steht dasselbe durchaus im Einklang mit der ple_179.002
überlieferten Praxis der griechischen Tragödie. Die großen attischen Tragiker ple_179.003
suchen ihre Wirkung nicht durch tiefe Einblicke in das Innenleben ple_179.004
ihrer Personen, noch durch feinere Ausgestaltung individueller Charaktere ple_179.005
zu erreichen. Die Charakteristik bleibt durchweg im Typischen, wie das ple_179.006
denn auch bei einer dramatischen Kunst, deren Stoffe ausschließlich ple_179.007
mythischer Natur sind, nicht wohl anders sein kann. Dafür interessieren ple_179.008
sie ihr Publikum durch die Ausgestaltung der Handlungen, durch die ple_179.009
Macht der Situation, die sie zu erfinden oder auszuwählen wissen, und die ple_179.010
zwingende Verkettung der Taten und Umstände, die zur tragischen Katastrophe ple_179.011
führen. Nicht mit Unrecht hat man im König Ödipus den Höhepunkt ple_179.012
antiker Technik gesehen. Zugleich kommt es besonders darauf an, ple_179.013
die Situationen und Entwicklungen in künstlerischer Weise zu verwerten, ple_179.014
in sprachlicher Hinsicht den rhetorisch dialektischen Charakter, den die ple_179.015
Griechen so liebten, in musikalischer den Stimmungsgehalt zu vollem Ausdruck ple_179.016
zu bringen. Eine spannende und erschütternde Begebenheit in kunstvollster ple_179.017
Form darzustellen, das ist Ziel und Wesen der griechischen Tragödie.1)

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Noch ausschließlicher trägt die klassische Dichtung der Franzosen ple_179.019
den Charakter einer Formenkunst. Die Freude an der Schönheit des ple_179.020
Sprachklangs, die allen romanischen Völkern gemeinsam ist, der Sinn für ple_179.021
eine zugleich nüchterne und doch grandiose Regelmäßigkeit des Baus, ple_179.022
der dem französischen Geschmack eignet, sucht hier Befriedigung. Es ist ple_179.023
kein Zweifel, daß diese Kunst der antiken näher steht als der Geist der ple_179.024
germanischen Dramen, der bei Shakespeare zum Ausdruck kam und der ple_179.025
auch Lessing umschwebte, als er es unternahm, das deutsche tragische ple_179.026
Theater zu begründen. Der Hamburgische Dramaturg befand sich also ple_179.027
im Irrtum, wenn er glaubte, diese deutsche Kunst auf die Antike gründen ple_179.028
und zugleich die klassisch französische Dichtung ablehnen zu können. ple_179.029
Wie der germanische Kunstgeist, wo er zu echtem und reinem Ausdruck ple_179.030
kommt, überall dem Charakteristischen zustrebt, so tritt auch bei ple_179.031
Shakespeare das Interesse für die Charaktere, für das psychologische Geschehen ple_179.032
weit stärker hervor, als das für die Kunstmäßigkeit der Form oder ple_179.033
einer raffiniert gestalteten Handlung, und daß auch Lessing den Hauptwert ple_179.034
auf die Charaktere legt, ergibt sich nicht nur aus Dramen, wie Minna ple_179.035
von Barnhelm und Nathan dem Weisen, sondern auch aus vielen theoretischen ple_179.036
Erörterungen in der Dramaturgie. So z. B. wenn er vom historischen ple_179.037
Drama verlangt, daß dem Dichter die Charaktere heilig seien, mit den

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Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. -- Ohne Handlung kann es ple_179.039
keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (aneu men praxeos ouk an genoito tragodia, ple_179.040
aneu de ethon genoit' an).
1) ple_179.041
Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile ple_179.042
der Tragödie: Fabel, Charaktere, Gedanken, das Anschauungsbild auf der Bühne, ple_179.043
sprachlicher Ausdruck, musikalische Komposition.

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Geschmacksurteil und zwar steht dasselbe durchaus im Einklang mit der ple_179.002
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denn auch bei einer dramatischen Kunst, deren Stoffe ausschließlich ple_179.007
mythischer Natur sind, nicht wohl anders sein kann. Dafür interessieren ple_179.008
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antiker Technik gesehen. Zugleich kommt es besonders darauf an, ple_179.013
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Griechen so liebten, in musikalischer den Stimmungsgehalt zu vollem Ausdruck ple_179.016
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Form darzustellen, das ist Ziel und Wesen der griechischen Tragödie.1)

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Noch ausschließlicher trägt die klassische Dichtung der Franzosen ple_179.019
den Charakter einer Formenkunst. Die Freude an der Schönheit des ple_179.020
Sprachklangs, die allen romanischen Völkern gemeinsam ist, der Sinn für ple_179.021
eine zugleich nüchterne und doch grandiose Regelmäßigkeit des Baus, ple_179.022
der dem französischen Geschmack eignet, sucht hier Befriedigung. Es ist ple_179.023
kein Zweifel, daß diese Kunst der antiken näher steht als der Geist der ple_179.024
germanischen Dramen, der bei Shakespeare zum Ausdruck kam und der ple_179.025
auch Lessing umschwebte, als er es unternahm, das deutsche tragische ple_179.026
Theater zu begründen. Der Hamburgische Dramaturg befand sich also ple_179.027
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Shakespeare das Interesse für die Charaktere, für das psychologische Geschehen ple_179.032
weit stärker hervor, als das für die Kunstmäßigkeit der Form oder ple_179.033
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von Barnhelm und Nathan dem Weisen, sondern auch aus vielen theoretischen ple_179.036
Erörterungen in der Dramaturgie. So z. B. wenn er vom historischen ple_179.037
Drama verlangt, daß dem Dichter die Charaktere heilig seien, mit den

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Begebenheiten und die Fabel der Endzweck der Tragödie. — Ohne Handlung kann es ple_179.039
keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere (ἄνευ μὲν πράξεως οὐκ ἄν γένοιτο τραγῳδία, ple_179.040
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Dementsprechend entwirft Aristoteles a. a. O. folgende Rangordnung für die Bestandteile ple_179.042
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/193>, abgerufen am 21.11.2024.