Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_180.001 ple_180.003 ple_180.001 ple_180.003 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0194" n="180"/><lb n="ple_180.001"/> Faktis könne er umspringen, wie er wolle; oder wenn er sich über die <lb n="ple_180.002"/> raffiniert ausgestaltete Handlung der Rodogune mit boshaftem Spott aufhält.</p> <p><lb n="ple_180.003"/> Am entscheidendsten tritt dieser Gegensatz in dem Streit über die <lb n="ple_180.004"/> <hi rendition="#g">Einheiten</hi> auf der tragischen Bühne hervor. Lessing behandelt die Einheitsregeln <lb n="ple_180.005"/> der Franzosen, soweit sie Ort und Zeit betreffen, als belanglose <lb n="ple_180.006"/> Äußerlichkeiten, die es nicht wert seien, daß ihnen auch nur ein kleinster <lb n="ple_180.007"/> Teil des Inhalts geopfert werde. Und gewiß hat er dem pedantischen <lb n="ple_180.008"/> Zwang gegenüber, mit dem diese Regeln auf dem französischen Theater <lb n="ple_180.009"/> durchgeführt wurden, im einzelnen recht. Allein andrerseits übersah er <lb n="ple_180.010"/> oder wollte übersehen, daß in dieser Strenge und Enge der Formengebung <lb n="ple_180.011"/> doch ein ganz bestimmter Kunstgeist zum Ausdruck kam, dem die Gesetze <lb n="ple_180.012"/> der französischen Bühne durchaus entsprachen, und der in seiner Art berechtigt <lb n="ple_180.013"/> und lebendig war, weil er aus dem nationalen Geschmack und <lb n="ple_180.014"/> der Zeitrichtung des grand siècle hervorging. Nur daß dieser Geist durchaus <lb n="ple_180.015"/> romanisch war und zu dem inneren Wesen germanischer Poesie in <lb n="ple_180.016"/> schroffem Gegensatz stand. Dem strengen Formengefühl romanischer Kunst <lb n="ple_180.017"/> entsprach es, daß das Gesetz der Einheit in schärfster Ausprägung durchgeführt <lb n="ple_180.018"/> wurde. Es verlangt eine einfache, gradlinige Handlung, die ununterbrochen <lb n="ple_180.019"/> zum bestimmten Ziel führt, nicht mehr Personen als notwendig <lb n="ple_180.020"/> sind, um dies Ziel zu erreichen. Es verbietet, daß sich einzelne <lb n="ple_180.021"/> Teile, auch wenn sie im Zusammenhang des Ganzen stehen, zu selbständiger <lb n="ple_180.022"/> Wirkung, zu Episoden auswachsen; und dem entspricht es nur, wenn <lb n="ple_180.023"/> die Handlung auch nach Raum und Zeit beschränkt wird. Daß sich die <lb n="ple_180.024"/> französischen Ästhetiker zum Teil mit Unrecht auf den Aristoteles beriefen, <lb n="ple_180.025"/> ist für die Sache offenbar unwesentlich. Sie suchten nur, wie alle Renaissancekunst <lb n="ple_180.026"/> und -Dichtung, für ihre eigene Stilform die Anknüpfung an <lb n="ple_180.027"/> das Altertum. Freilich wurde, was sich für die griechische Tragödie, bei <lb n="ple_180.028"/> dem geringen Umfang der Stücke und bei den ebenso geringen technischen <lb n="ple_180.029"/> Hilfsmitteln der Bühne, von selbst verstand, hier mit einer gewissen Willkür <lb n="ple_180.030"/> und Gewaltsamkeit festgelegt und festgehalten; und die Fesseln, die der <lb n="ple_180.031"/> dichterischen Phantasie auf diese Weise angelegt wurden, mußten auf die <lb n="ple_180.032"/> Dauer notwendig zu Leere und Armut führen. Demgegenüber faßt die <lb n="ple_180.033"/> germanische Kunst bei Shakespeare sowohl wie bei Lessing das Prinzip <lb n="ple_180.034"/> der künstlerischen Einheit beträchtlich lockerer und läßt damit dem Dichter <lb n="ple_180.035"/> einen viel weiteren Spielraum. Die Handlung der Tragödie greift weit <lb n="ple_180.036"/> aus; sie umfaßt eine Fülle von Einzelheiten, die sich gern zu episodischer <lb n="ple_180.037"/> Selbständigkeit entwickeln. Sie setzt fast stets eine größere Anzahl von <lb n="ple_180.038"/> Personen in Bewegung, von denen mehrere ein Interesse für sich in Anspruch <lb n="ple_180.039"/> nehmen. Sie beschränkt weder den Schauplatz noch die Zeit der <lb n="ple_180.040"/> Handlung. Ja, die Episoden wachsen zuweilen zu einer zweiten Handlung <lb n="ple_180.041"/> aus, die mit der Haupthandlung nur durch die eine oder die andere vermittelnde <lb n="ple_180.042"/> Person oder einen ideellen Zusammenhang, nicht aber durch <lb n="ple_180.043"/> irgend welche Notwendigkeit, die in der Handlung selbst liegt, verbunden </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [180/0194]
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Faktis könne er umspringen, wie er wolle; oder wenn er sich über die ple_180.002
raffiniert ausgestaltete Handlung der Rodogune mit boshaftem Spott aufhält.
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Am entscheidendsten tritt dieser Gegensatz in dem Streit über die ple_180.004
Einheiten auf der tragischen Bühne hervor. Lessing behandelt die Einheitsregeln ple_180.005
der Franzosen, soweit sie Ort und Zeit betreffen, als belanglose ple_180.006
Äußerlichkeiten, die es nicht wert seien, daß ihnen auch nur ein kleinster ple_180.007
Teil des Inhalts geopfert werde. Und gewiß hat er dem pedantischen ple_180.008
Zwang gegenüber, mit dem diese Regeln auf dem französischen Theater ple_180.009
durchgeführt wurden, im einzelnen recht. Allein andrerseits übersah er ple_180.010
oder wollte übersehen, daß in dieser Strenge und Enge der Formengebung ple_180.011
doch ein ganz bestimmter Kunstgeist zum Ausdruck kam, dem die Gesetze ple_180.012
der französischen Bühne durchaus entsprachen, und der in seiner Art berechtigt ple_180.013
und lebendig war, weil er aus dem nationalen Geschmack und ple_180.014
der Zeitrichtung des grand siècle hervorging. Nur daß dieser Geist durchaus ple_180.015
romanisch war und zu dem inneren Wesen germanischer Poesie in ple_180.016
schroffem Gegensatz stand. Dem strengen Formengefühl romanischer Kunst ple_180.017
entsprach es, daß das Gesetz der Einheit in schärfster Ausprägung durchgeführt ple_180.018
wurde. Es verlangt eine einfache, gradlinige Handlung, die ununterbrochen ple_180.019
zum bestimmten Ziel führt, nicht mehr Personen als notwendig ple_180.020
sind, um dies Ziel zu erreichen. Es verbietet, daß sich einzelne ple_180.021
Teile, auch wenn sie im Zusammenhang des Ganzen stehen, zu selbständiger ple_180.022
Wirkung, zu Episoden auswachsen; und dem entspricht es nur, wenn ple_180.023
die Handlung auch nach Raum und Zeit beschränkt wird. Daß sich die ple_180.024
französischen Ästhetiker zum Teil mit Unrecht auf den Aristoteles beriefen, ple_180.025
ist für die Sache offenbar unwesentlich. Sie suchten nur, wie alle Renaissancekunst ple_180.026
und -Dichtung, für ihre eigene Stilform die Anknüpfung an ple_180.027
das Altertum. Freilich wurde, was sich für die griechische Tragödie, bei ple_180.028
dem geringen Umfang der Stücke und bei den ebenso geringen technischen ple_180.029
Hilfsmitteln der Bühne, von selbst verstand, hier mit einer gewissen Willkür ple_180.030
und Gewaltsamkeit festgelegt und festgehalten; und die Fesseln, die der ple_180.031
dichterischen Phantasie auf diese Weise angelegt wurden, mußten auf die ple_180.032
Dauer notwendig zu Leere und Armut führen. Demgegenüber faßt die ple_180.033
germanische Kunst bei Shakespeare sowohl wie bei Lessing das Prinzip ple_180.034
der künstlerischen Einheit beträchtlich lockerer und läßt damit dem Dichter ple_180.035
einen viel weiteren Spielraum. Die Handlung der Tragödie greift weit ple_180.036
aus; sie umfaßt eine Fülle von Einzelheiten, die sich gern zu episodischer ple_180.037
Selbständigkeit entwickeln. Sie setzt fast stets eine größere Anzahl von ple_180.038
Personen in Bewegung, von denen mehrere ein Interesse für sich in Anspruch ple_180.039
nehmen. Sie beschränkt weder den Schauplatz noch die Zeit der ple_180.040
Handlung. Ja, die Episoden wachsen zuweilen zu einer zweiten Handlung ple_180.041
aus, die mit der Haupthandlung nur durch die eine oder die andere vermittelnde ple_180.042
Person oder einen ideellen Zusammenhang, nicht aber durch ple_180.043
irgend welche Notwendigkeit, die in der Handlung selbst liegt, verbunden
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