Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_183.001 ple_183.023 ple_183.035 ple_183.001 ple_183.023 ple_183.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0197" n="183"/><lb n="ple_183.001"/> der Lyrik angefangen und die übrigen Gattungen sich aus dieser entwickelt <lb n="ple_183.002"/> hätten. Im Gegensatz zu dieser alt verbreiteten Meinung suchte <lb n="ple_183.003"/> Wackernagel (Poetik S. 42 ff.) eingehend nachzuweisen, „daß die epische <lb n="ple_183.004"/> Poesie die älteste und daß alle Poesie zuerst nur episch gewesen“ sei. <lb n="ple_183.005"/> Allein die junge Wissenschaft der Anthropologie, die der Betrachtung <lb n="ple_183.006"/> menschlicher Entwicklung unabsehbare Fernblicke eröffnet hat, lehrt uns <lb n="ple_183.007"/> mit allen Ursprungsfragen vorsichtig und mehr als dies zu sein. Sie zeigt <lb n="ple_183.008"/> uns, daß die Vorstellung, die sich frühere Gelehrte von ursprünglichen <lb n="ple_183.009"/> Zeiten und Menschen gemacht haben, zum größten Teil falsch, ja phantastisch <lb n="ple_183.010"/> waren und daß, was an Sprache und Sitte, an Sage und Dichtung <lb n="ple_183.011"/> für ursprünglich gehalten wurde, tatsächlich zumeist eine unabsehbar <lb n="ple_183.012"/> lange Entwicklung hinter sich hat. Was nun aber die ältesten Erzeugnisse <lb n="ple_183.013"/> der Poesie anbetrifft, von denen wir wissen, so scheint es, daß dieselben <lb n="ple_183.014"/> keine der drei Gattungscharaktere deutlich zum Ausdruck bringen, vielmehr <lb n="ple_183.015"/> in gewissem Sinne allen dreien gleichmäßig angehören. Die Tanzlieder <lb n="ple_183.016"/> und religiösen Kultgesänge, von denen zu Anfang des 9. Abschnitts (S. 93) <lb n="ple_183.017"/> die Rede war, enthalten zum größten Teil dramatische wie lyrische und <lb n="ple_183.018"/> epische Elemente, und erst allmählich, wie sich die Poesie zur selbständigen <lb n="ple_183.019"/> Bedeutung entfaltete, sonderten sich die einzelnen Gattungscharaktere von <lb n="ple_183.020"/> einander ab. Besonders traten lyrische und epische Gedichte deutlich als <lb n="ple_183.021"/> solche heraus, während das Drama, wie uns der vorige Abschnitt gezeigt <lb n="ple_183.022"/> hat, stets lyrische und epische Partien beibehielt. —</p> <p><lb n="ple_183.023"/> Ist die Poesie ursprünglich nur <hi rendition="#g">eine,</hi> entspringen ihre Gattungen bei <lb n="ple_183.024"/> aller Verschiedenheit der Funktionen, in welchen der formenbildende Trieb <lb n="ple_183.025"/> sich äußert, doch nur <hi rendition="#g">einer</hi> gestaltenden Grundtätigkeit der Phantasie, so <lb n="ple_183.026"/> ist verständlich, daß es Dichtungsformen gibt, in denen die Charakterzüge <lb n="ple_183.027"/> der verschiedenen Gattungen nicht nebeneinander, wie eben vom <lb n="ple_183.028"/> Drama gesagt wurde, sondern miteinander verbunden, ja verschmolzen auftreten: <lb n="ple_183.029"/> lyrische und epische, epische und dramatische Eigenart, ja bisweilen <lb n="ple_183.030"/> alle drei fließen hier ineinander über. Solche Gedichte bilden somit <lb n="ple_183.031"/> vermittelnde Zwischenformen; sie sind bedeutungsvoll und belehrend, weil <lb n="ple_183.032"/> sie besonders deutlich zeigen, daß die Grenzen, welche die Begriffe der <lb n="ple_183.033"/> Poetik wie die Sphären der Poesie voneinander trennen, nicht mechanisch <lb n="ple_183.034"/> starr und fest, sondern lebendig fließend sind.</p> <p><lb n="ple_183.035"/> Den einfachsten Typus einer solchen Zwischenform zeigt die sogenannte <lb n="ple_183.036"/> <hi rendition="#g">Rollenlyrik,</hi> wie sie z. B. die Frauenstrophen mittelalterlicher Sänger <lb n="ple_183.037"/> und viele entsprechende Gedichte moderner Dichter darstellen. Um an <lb n="ple_183.038"/> einige der bekanntesten zu erinnern: Chamissos Frauenliebe und Leben, <lb n="ple_183.039"/> desselben Dichters Zyklen „Tränen“ und „Die Blinde“, etwa die Hälfte der <lb n="ple_183.040"/> Verse in Rückerts Liebesfrühling, Goethes „Nähe des Geliebten“ (abgedruckt <lb n="ple_183.041"/> oben S. 124), Mörikes Verlassenes Mädchen. Diese Gedichte gehören zweifellos <lb n="ple_183.042"/> der Lyrik an: sie schildern nur innere Zustände, Gefühle und Gedanken, <lb n="ple_183.043"/> und durch diese Innerlichkeit unterscheiden sie sich von der gegenständlichen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [183/0197]
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der Lyrik angefangen und die übrigen Gattungen sich aus dieser entwickelt ple_183.002
hätten. Im Gegensatz zu dieser alt verbreiteten Meinung suchte ple_183.003
Wackernagel (Poetik S. 42 ff.) eingehend nachzuweisen, „daß die epische ple_183.004
Poesie die älteste und daß alle Poesie zuerst nur episch gewesen“ sei. ple_183.005
Allein die junge Wissenschaft der Anthropologie, die der Betrachtung ple_183.006
menschlicher Entwicklung unabsehbare Fernblicke eröffnet hat, lehrt uns ple_183.007
mit allen Ursprungsfragen vorsichtig und mehr als dies zu sein. Sie zeigt ple_183.008
uns, daß die Vorstellung, die sich frühere Gelehrte von ursprünglichen ple_183.009
Zeiten und Menschen gemacht haben, zum größten Teil falsch, ja phantastisch ple_183.010
waren und daß, was an Sprache und Sitte, an Sage und Dichtung ple_183.011
für ursprünglich gehalten wurde, tatsächlich zumeist eine unabsehbar ple_183.012
lange Entwicklung hinter sich hat. Was nun aber die ältesten Erzeugnisse ple_183.013
der Poesie anbetrifft, von denen wir wissen, so scheint es, daß dieselben ple_183.014
keine der drei Gattungscharaktere deutlich zum Ausdruck bringen, vielmehr ple_183.015
in gewissem Sinne allen dreien gleichmäßig angehören. Die Tanzlieder ple_183.016
und religiösen Kultgesänge, von denen zu Anfang des 9. Abschnitts (S. 93) ple_183.017
die Rede war, enthalten zum größten Teil dramatische wie lyrische und ple_183.018
epische Elemente, und erst allmählich, wie sich die Poesie zur selbständigen ple_183.019
Bedeutung entfaltete, sonderten sich die einzelnen Gattungscharaktere von ple_183.020
einander ab. Besonders traten lyrische und epische Gedichte deutlich als ple_183.021
solche heraus, während das Drama, wie uns der vorige Abschnitt gezeigt ple_183.022
hat, stets lyrische und epische Partien beibehielt. —
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Ist die Poesie ursprünglich nur eine, entspringen ihre Gattungen bei ple_183.024
aller Verschiedenheit der Funktionen, in welchen der formenbildende Trieb ple_183.025
sich äußert, doch nur einer gestaltenden Grundtätigkeit der Phantasie, so ple_183.026
ist verständlich, daß es Dichtungsformen gibt, in denen die Charakterzüge ple_183.027
der verschiedenen Gattungen nicht nebeneinander, wie eben vom ple_183.028
Drama gesagt wurde, sondern miteinander verbunden, ja verschmolzen auftreten: ple_183.029
lyrische und epische, epische und dramatische Eigenart, ja bisweilen ple_183.030
alle drei fließen hier ineinander über. Solche Gedichte bilden somit ple_183.031
vermittelnde Zwischenformen; sie sind bedeutungsvoll und belehrend, weil ple_183.032
sie besonders deutlich zeigen, daß die Grenzen, welche die Begriffe der ple_183.033
Poetik wie die Sphären der Poesie voneinander trennen, nicht mechanisch ple_183.034
starr und fest, sondern lebendig fließend sind.
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Den einfachsten Typus einer solchen Zwischenform zeigt die sogenannte ple_183.036
Rollenlyrik, wie sie z. B. die Frauenstrophen mittelalterlicher Sänger ple_183.037
und viele entsprechende Gedichte moderner Dichter darstellen. Um an ple_183.038
einige der bekanntesten zu erinnern: Chamissos Frauenliebe und Leben, ple_183.039
desselben Dichters Zyklen „Tränen“ und „Die Blinde“, etwa die Hälfte der ple_183.040
Verse in Rückerts Liebesfrühling, Goethes „Nähe des Geliebten“ (abgedruckt ple_183.041
oben S. 124), Mörikes Verlassenes Mädchen. Diese Gedichte gehören zweifellos ple_183.042
der Lyrik an: sie schildern nur innere Zustände, Gefühle und Gedanken, ple_183.043
und durch diese Innerlichkeit unterscheiden sie sich von der gegenständlichen
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