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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Dichtung. Aber es sind nicht seine eigenen, nicht unsere Gefühle ple_184.002
und Zustände, die der Dichter ausspricht, sondern die einer Gestalt seiner ple_184.003
Phantasie, die wir uns gegenständlich vorstellen müssen: das ist wiederum ple_184.004
dramatisch. Der Dichter versenkt sich ganz und gar in das Innere eines ple_184.005
Menschen, in dessen Situation ihn seine Phantasie versetzt: wie etwa Chamisso ple_184.006
in den Zustand des blinden Mädchens oder der Jungfrau, die dem ple_184.007
ungeliebten Gatten hat folgen müssen ("Tränen"). Wie nahe diese Art der ple_184.008
Lyrik dramatischer Gestaltung kommt, zeigen die sogenannten Monodramen ple_184.009
des 18. Jahrhunderts, von denen Goethes Proserpina das bekannteste ist, ple_184.010
besonders aber auch die Gedichte in Gesprächsform, wie sie wiederum ple_184.011
Goethe liebt. Sein Wanderer ist ein unerreichbar schönes Beispiel dieser ple_184.012
Art: zwei typisch verschiedene Menschen werden einander gegenübergestellt; ple_184.013
jeder zeigt sich ganz, wie er ist und empfindet; sogar eine innere ple_184.014
Entwicklung bleibt nicht aus. Zum dramatischen Gedicht fehlt nur die ple_184.015
Handlung.

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Noch entschiedener bahnt den Übergang zur dramatischen Form die ple_184.017
sogenannte Maskenlyrik an, das Gegenstück zu der bisher betrachteten ple_184.018
Rollendichtung. Redet hier eine fremde Person aus dem Munde des ple_184.019
Dichters, so spricht dort der Dichter seine eigenen Gefühle und Zustände ple_184.020
durch fremden Mund aus. Es ist subjektive Poesie in dramatischer Form, ple_184.021
wie man umgekehrt die Rollenlyrik dramatische Dichtung in lyrischer Gestalt ple_184.022
nennen könnte. Die meisten Monologe in Goethes Faust, vor allem ple_184.023
der in Wald und Höhle "Erhabener Geist du gabst mir, gabst mir Alles", ple_184.024
aber auch der in der Osternacht "Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung ple_184.025
schwindet" und der gewaltige Schlußmonolog geben anschauliche Beispiele. --

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Am eigenartigsten ausgeprägt ist der Charakter der Zwischenform, ple_184.027
zu welcher die verschiedenen Gattungen verschmelzen, in der Ballade. Der ple_184.028
irreführende romanische Name, der "Tanzlied" bedeutet, ist durch ein Mißverständnis ple_184.029
auf eine Art von Dichtung übertragen, die mit dem Tanzlied ple_184.030
an sich nicht mehr zu tun hat als irgend eine andere Form der Poesie, ple_184.031
und die noch dazu im Norden weit mehr zu Hause ist als in südlichen ple_184.032
Ländern. Aus dem Altertum ist uns kein Gedicht überliefert, das in diese ple_184.033
Kategorie gehört. Dagegen tragen eine ganze Anzahl von Eddaliedern ple_184.034
den ausgesprochenen Balladencharakter (vgl. S. 153): man denke an Odins ple_184.035
Ritt zur Wala (Baldurs Traum), an Brynhilds Fahrt zu Hel und viele ple_184.036
andere. Ebenso hat das Volkslied späterer Jahrhunderte, besonders das ple_184.037
englische und deutsche ihn mit Vorliebe gepflegt. Erst mit dem wiedererwachenden ple_184.038
Interesse für die Volksdichtung ist die Ballade in die moderne ple_184.039
Kunstpoesie eingedrungen, durch Herder und Bürger eingeführt, durch ple_184.040
Goethe und die Romantiker zur Vollendung gebracht. Sie bildet daher ple_184.041
schon ihrem geschichtlichen Ursprung nach ein interessantes Gegenstück ple_184.042
zu den meisten Formen der klassischen Dichtung, die der Renaissance oder ple_184.043
dem Altertum entstammen.

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Dichtung. Aber es sind nicht seine eigenen, nicht unsere Gefühle ple_184.002
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Phantasie, die wir uns gegenständlich vorstellen müssen: das ist wiederum ple_184.004
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Rollendichtung. Redet hier eine fremde Person aus dem Munde des ple_184.019
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Am eigenartigsten ausgeprägt ist der Charakter der Zwischenform, ple_184.027
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[184/0198] ple_184.001 Dichtung. Aber es sind nicht seine eigenen, nicht unsere Gefühle ple_184.002 und Zustände, die der Dichter ausspricht, sondern die einer Gestalt seiner ple_184.003 Phantasie, die wir uns gegenständlich vorstellen müssen: das ist wiederum ple_184.004 dramatisch. Der Dichter versenkt sich ganz und gar in das Innere eines ple_184.005 Menschen, in dessen Situation ihn seine Phantasie versetzt: wie etwa Chamisso ple_184.006 in den Zustand des blinden Mädchens oder der Jungfrau, die dem ple_184.007 ungeliebten Gatten hat folgen müssen („Tränen“). Wie nahe diese Art der ple_184.008 Lyrik dramatischer Gestaltung kommt, zeigen die sogenannten Monodramen ple_184.009 des 18. Jahrhunderts, von denen Goethes Proserpina das bekannteste ist, ple_184.010 besonders aber auch die Gedichte in Gesprächsform, wie sie wiederum ple_184.011 Goethe liebt. Sein Wanderer ist ein unerreichbar schönes Beispiel dieser ple_184.012 Art: zwei typisch verschiedene Menschen werden einander gegenübergestellt; ple_184.013 jeder zeigt sich ganz, wie er ist und empfindet; sogar eine innere ple_184.014 Entwicklung bleibt nicht aus. Zum dramatischen Gedicht fehlt nur die ple_184.015 Handlung. ple_184.016 Noch entschiedener bahnt den Übergang zur dramatischen Form die ple_184.017 sogenannte Maskenlyrik an, das Gegenstück zu der bisher betrachteten ple_184.018 Rollendichtung. Redet hier eine fremde Person aus dem Munde des ple_184.019 Dichters, so spricht dort der Dichter seine eigenen Gefühle und Zustände ple_184.020 durch fremden Mund aus. Es ist subjektive Poesie in dramatischer Form, ple_184.021 wie man umgekehrt die Rollenlyrik dramatische Dichtung in lyrischer Gestalt ple_184.022 nennen könnte. Die meisten Monologe in Goethes Faust, vor allem ple_184.023 der in Wald und Höhle „Erhabener Geist du gabst mir, gabst mir Alles“, ple_184.024 aber auch der in der Osternacht „Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung ple_184.025 schwindet“ und der gewaltige Schlußmonolog geben anschauliche Beispiele. — ple_184.026 Am eigenartigsten ausgeprägt ist der Charakter der Zwischenform, ple_184.027 zu welcher die verschiedenen Gattungen verschmelzen, in der Ballade. Der ple_184.028 irreführende romanische Name, der „Tanzlied“ bedeutet, ist durch ein Mißverständnis ple_184.029 auf eine Art von Dichtung übertragen, die mit dem Tanzlied ple_184.030 an sich nicht mehr zu tun hat als irgend eine andere Form der Poesie, ple_184.031 und die noch dazu im Norden weit mehr zu Hause ist als in südlichen ple_184.032 Ländern. Aus dem Altertum ist uns kein Gedicht überliefert, das in diese ple_184.033 Kategorie gehört. Dagegen tragen eine ganze Anzahl von Eddaliedern ple_184.034 den ausgesprochenen Balladencharakter (vgl. S. 153): man denke an Odins ple_184.035 Ritt zur Wala (Baldurs Traum), an Brynhilds Fahrt zu Hel und viele ple_184.036 andere. Ebenso hat das Volkslied späterer Jahrhunderte, besonders das ple_184.037 englische und deutsche ihn mit Vorliebe gepflegt. Erst mit dem wiedererwachenden ple_184.038 Interesse für die Volksdichtung ist die Ballade in die moderne ple_184.039 Kunstpoesie eingedrungen, durch Herder und Bürger eingeführt, durch ple_184.040 Goethe und die Romantiker zur Vollendung gebracht. Sie bildet daher ple_184.041 schon ihrem geschichtlichen Ursprung nach ein interessantes Gegenstück ple_184.042 zu den meisten Formen der klassischen Dichtung, die der Renaissance oder ple_184.043 dem Altertum entstammen.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/198>, abgerufen am 21.11.2024.