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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Man pflegt die Ballade meist als ein episch-lyrisches Gedicht zu bezeichnen, ple_185.002
und in der Tat ist das Vorherrschen des Stimmungsgehalts in ple_185.003
diesen Gedichten ebenso unverkennbar, wie die epische Grundlage. Eine ple_185.004
episch gegebene Situation, oder eine Reihe von solchen, wird nach ihrem ple_185.005
Gefühlsinhalt ausgeschöpft und zwar so, daß das Ganze sich zu einer ple_185.006
durchaus einheitlichen Stimmung zusammenschließt, die dann auch in einer ple_185.007
festgeschlossenen, oft liedmäßigen Form zum Ausdruck kommt. Allein ebenso ple_185.008
deutlich ist, daß dieser Form fast stets auch ein mehr oder weniger dramatischer ple_185.009
Charakter eignet. Schon durch die Konzentration auf die Hauptmomente ple_185.010
der gegebenen Lage und Handlung, die jede epische Breite und ple_185.011
Anschaulichkeit ausschließt und alles äußere Geschehen nur andeutet, oft ple_185.012
genug sogar im Halbdunkel läßt, wird die Ballade der dramatischen Szene ple_185.013
angenähert. Und enger noch wird diese Verwandtschaft dadurch, daß es auch ple_185.014
in der Ballade fast stets Gegensätze innerer und äußerer Natur sind, die ple_185.015
einander schroff gegenüber gestellt werden: aus dieser Kontrastwirkung ple_185.016
geht eine einheitliche Gesamtstimmung zumeist düsterer, oft tragischer ple_185.017
Färbung hervor. Daher erklärt es sich, daß in den meisten Balladen die ple_185.018
Dialogform herrscht; viele, darunter eine Anzahl besonders eindrucksvoller, ple_185.019
bestehen nur aus einem Dialog ohne jedes erzählende oder erläuternde ple_185.020
Wort, so die berühmte Musterballade "Edward", so Eichendorffs "Waldesgespräch". ple_185.021
In vielen anderen ist das epische Element auf Einleitung ple_185.022
und Schluß beschränkt und besteht oft nur aus wenigen einführenden und ple_185.023
abschließenden Worten, wie im Erlkönig, in Uhlands Bertran de Born; ple_185.024
aber auch da, wo die Erzählung mehr Raum einnimmt, steht doch zumeist ple_185.025
ein Dialog im Mittelpunkt des Ganzen. So schon in dem eben angeführten ple_185.026
Eddalied von Odins Ritt zur Wala, so in Goethes Fischer, dem getreuen ple_185.027
Eckart. In anderen freilich bildet eine entscheidende Handlung den ple_185.028
Mittelpunkt, und hier wird denn begreiflicherweise der Dichter genötigt, im ple_185.029
eigenen Namen zu erzählen; so in den meisten Uhlandschen Balladen: ple_185.030
das Glück von Edenhall, des Sängers Fluch, der blinde König, in Heines ple_185.031
Belsazar, Platens Grab im Busento. Charakteristisch aber ist es, daß in ple_185.032
nahezu all diesen Gedichten der Dichter in der Gegenwart spricht oder ple_185.033
doch, wenn er die Erzählung im Präteritum begonnen hat, auf dem Höhepunkt ple_185.034
stets in das Präsens überspringt.

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Denn dies ist offenbar das innere Wesen der Ballade, daß die Grenze ple_185.036
zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsdichtung verwischt ist und das ple_185.037
Nacherleben unmittelbar zum Miterleben wird. Die gestaltende Phantasie ple_185.038
des Erzählers wird so von ihren Bildern hingerissen, dass sie die epische ple_185.039
Form durchbricht und dramatisch wird; das lyrische Element bildet dann ple_185.040
gewissermaßen den Ausgleich zwischen den beiden anderen Gattungscharakteren.

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Es liegt im Wesen der Zwischenform, daß sie sich bald der einen, ple_185.043
bald der anderen Gattung entschiedener anzunähern vermag. Die Balladen

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Man pflegt die Ballade meist als ein episch-lyrisches Gedicht zu bezeichnen, ple_185.002
und in der Tat ist das Vorherrschen des Stimmungsgehalts in ple_185.003
diesen Gedichten ebenso unverkennbar, wie die epische Grundlage. Eine ple_185.004
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Gefühlsinhalt ausgeschöpft und zwar so, daß das Ganze sich zu einer ple_185.006
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Dialogform herrscht; viele, darunter eine Anzahl besonders eindrucksvoller, ple_185.019
bestehen nur aus einem Dialog ohne jedes erzählende oder erläuternde ple_185.020
Wort, so die berühmte Musterballade „Edward“, so Eichendorffs „Waldesgespräch“. ple_185.021
In vielen anderen ist das epische Element auf Einleitung ple_185.022
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Eddalied von Odins Ritt zur Wala, so in Goethes Fischer, dem getreuen ple_185.027
Eckart. In anderen freilich bildet eine entscheidende Handlung den ple_185.028
Mittelpunkt, und hier wird denn begreiflicherweise der Dichter genötigt, im ple_185.029
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Belsazar, Platens Grab im Busento. Charakteristisch aber ist es, daß in ple_185.032
nahezu all diesen Gedichten der Dichter in der Gegenwart spricht oder ple_185.033
doch, wenn er die Erzählung im Präteritum begonnen hat, auf dem Höhepunkt ple_185.034
stets in das Präsens überspringt.

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Denn dies ist offenbar das innere Wesen der Ballade, daß die Grenze ple_185.036
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Nacherleben unmittelbar zum Miterleben wird. Die gestaltende Phantasie ple_185.038
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gewissermaßen den Ausgleich zwischen den beiden anderen Gattungscharakteren.

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Es liegt im Wesen der Zwischenform, daß sie sich bald der einen, ple_185.043
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[185/0199] ple_185.001 Man pflegt die Ballade meist als ein episch-lyrisches Gedicht zu bezeichnen, ple_185.002 und in der Tat ist das Vorherrschen des Stimmungsgehalts in ple_185.003 diesen Gedichten ebenso unverkennbar, wie die epische Grundlage. Eine ple_185.004 episch gegebene Situation, oder eine Reihe von solchen, wird nach ihrem ple_185.005 Gefühlsinhalt ausgeschöpft und zwar so, daß das Ganze sich zu einer ple_185.006 durchaus einheitlichen Stimmung zusammenschließt, die dann auch in einer ple_185.007 festgeschlossenen, oft liedmäßigen Form zum Ausdruck kommt. Allein ebenso ple_185.008 deutlich ist, daß dieser Form fast stets auch ein mehr oder weniger dramatischer ple_185.009 Charakter eignet. Schon durch die Konzentration auf die Hauptmomente ple_185.010 der gegebenen Lage und Handlung, die jede epische Breite und ple_185.011 Anschaulichkeit ausschließt und alles äußere Geschehen nur andeutet, oft ple_185.012 genug sogar im Halbdunkel läßt, wird die Ballade der dramatischen Szene ple_185.013 angenähert. Und enger noch wird diese Verwandtschaft dadurch, daß es auch ple_185.014 in der Ballade fast stets Gegensätze innerer und äußerer Natur sind, die ple_185.015 einander schroff gegenüber gestellt werden: aus dieser Kontrastwirkung ple_185.016 geht eine einheitliche Gesamtstimmung zumeist düsterer, oft tragischer ple_185.017 Färbung hervor. Daher erklärt es sich, daß in den meisten Balladen die ple_185.018 Dialogform herrscht; viele, darunter eine Anzahl besonders eindrucksvoller, ple_185.019 bestehen nur aus einem Dialog ohne jedes erzählende oder erläuternde ple_185.020 Wort, so die berühmte Musterballade „Edward“, so Eichendorffs „Waldesgespräch“. ple_185.021 In vielen anderen ist das epische Element auf Einleitung ple_185.022 und Schluß beschränkt und besteht oft nur aus wenigen einführenden und ple_185.023 abschließenden Worten, wie im Erlkönig, in Uhlands Bertran de Born; ple_185.024 aber auch da, wo die Erzählung mehr Raum einnimmt, steht doch zumeist ple_185.025 ein Dialog im Mittelpunkt des Ganzen. So schon in dem eben angeführten ple_185.026 Eddalied von Odins Ritt zur Wala, so in Goethes Fischer, dem getreuen ple_185.027 Eckart. In anderen freilich bildet eine entscheidende Handlung den ple_185.028 Mittelpunkt, und hier wird denn begreiflicherweise der Dichter genötigt, im ple_185.029 eigenen Namen zu erzählen; so in den meisten Uhlandschen Balladen: ple_185.030 das Glück von Edenhall, des Sängers Fluch, der blinde König, in Heines ple_185.031 Belsazar, Platens Grab im Busento. Charakteristisch aber ist es, daß in ple_185.032 nahezu all diesen Gedichten der Dichter in der Gegenwart spricht oder ple_185.033 doch, wenn er die Erzählung im Präteritum begonnen hat, auf dem Höhepunkt ple_185.034 stets in das Präsens überspringt. ple_185.035 Denn dies ist offenbar das innere Wesen der Ballade, daß die Grenze ple_185.036 zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsdichtung verwischt ist und das ple_185.037 Nacherleben unmittelbar zum Miterleben wird. Die gestaltende Phantasie ple_185.038 des Erzählers wird so von ihren Bildern hingerissen, dass sie die epische ple_185.039 Form durchbricht und dramatisch wird; das lyrische Element bildet dann ple_185.040 gewissermaßen den Ausgleich zwischen den beiden anderen Gattungscharakteren. ple_185.041 ple_185.042 Es liegt im Wesen der Zwischenform, daß sie sich bald der einen, ple_185.043 bald der anderen Gattung entschiedener anzunähern vermag. Die Balladen

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/199>, abgerufen am 24.11.2024.