Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_186.001 ple_186.032 ple_186.038 ple_186.001 ple_186.032 ple_186.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0200" n="186"/><lb n="ple_186.001"/> der Romantiker, besonders Brentanos und Eichendorffs, tragen nicht selten <lb n="ple_186.002"/> einen ausgesprochenen lyrischen Charakter: der gegenständliche Inhalt <lb n="ple_186.003"/> wächst hier erst aus der Stimmung hervor, nicht umgekehrt, wie bei den <lb n="ple_186.004"/> bisher erwähnten Gedichten. Ein Beispiel ist das Eichendorffsche Gedicht <lb n="ple_186.005"/> „Der stille Grund“. Die Nixe, die den nächtlichen Wanderer in <lb n="ple_186.006"/> ihre Kreise lockt, ist nichts als die Verkörperung der mondbeglänzten Nacht, <lb n="ple_186.007"/> welche die Menschen wie die Täler weit und breit verwirret. — Andrerseits <lb n="ple_186.008"/> ist eine Verbindung des Balladenhaften mit der eigentlich epischen <lb n="ple_186.009"/> Erzählung ebenso wohl möglich, und die meisten großen und ausgeführten <lb n="ple_186.010"/> Balladen Goethes stellen eine solche dar. Dabei kann selbst in längerer <lb n="ple_186.011"/> Erzählung der dramatisch-lyrische Charakter überwiegen, wie das in Goethes <lb n="ple_186.012"/> Gott und Bajadere, aber auch schon in Bürgers Leonore der Fall ist. Es <lb n="ple_186.013"/> können aber auch rein epische und echt balladenhafte Teile eines Gedichts <lb n="ple_186.014"/> nebeneinander stehen, und die Kunst des Dichters zeigt sich eben darin, <lb n="ple_186.015"/> beide ohne fühlbare Diskrepanz ineinander überzuführen. Das Meisterstück <lb n="ple_186.016"/> dieser Gattung ist die Braut von Korinth. Der Anfang setzt vollkommen <lb n="ple_186.017"/> episch ein (siehe oben S. 82 f.); und die Erzählung wahrt diesen <lb n="ple_186.018"/> Charakter, bis sie mit der sich entflammenden Leidenschaft des Jünglings <lb n="ple_186.019"/> allmählich die beschauliche Ruhe aufgibt und selbst dramatische Färbung <lb n="ple_186.020"/> annimmt. Aber auch noch im Moment der höchsten Steigerung weiß der <lb n="ple_186.021"/> Dichter eine sehr glückliche Kontrastwirkung zu erreichen, indem er plötzlich <lb n="ple_186.022"/> retardierend in den epischen Ton zurückfällt: <lb n="ple_186.023"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Unterdessen schleichet auf dem Gange</l><lb n="ple_186.024"/><l>Häuslich spät die Mutter noch vorbei,</l><lb n="ple_186.025"/><l>Horchet an der Tür und horchet lange,</l><lb n="ple_186.026"/><l>Welch ein sonderbarer Ton das sei.</l><lb n="ple_186.027"/><l>Klag- und Wonnelaut</l><lb n="ple_186.028"/><l>Bräutigams und Braut</l><lb n="ple_186.029"/><l>Und des Liebesstammelns Raserei. </l></lg><lg><lb n="ple_186.030"/><l>Unbeweglich bleibt sie an der Türe,</l><lb n="ple_186.031"/><l>Weil sie erst sich überzeugen muß ....</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_186.032"/> Schillers poetische Erzählungen dagegen gehören durchweg, mit einziger <lb n="ple_186.033"/> Ausnahme des Ritter Toggenburg und allenfalls des Tauchers, der <lb n="ple_186.034"/> reinen Epik an; und wiewohl der Dichter gelegentlich versucht, durch <lb n="ple_186.035"/> Weglassung von Namen und Nebenumständen ihnen etwas vom Charakter <lb n="ple_186.036"/> der Ballade zu verleihen, so tragen sie gleichwohl diesen Namen mit <lb n="ple_186.037"/> Unrecht.</p> <p><lb n="ple_186.038"/> In Goethes Dichtung können wir deutlich solche Balladen, die den <lb n="ple_186.039"/> ursprünglich volkstümlichen Charakter rein bewahrt haben, von solchen unterscheiden, <lb n="ple_186.040"/> denen durch Sprache und Ton, zum Teil auch durch den Inhalt <lb n="ple_186.041"/> das Gepräge der Kunstpoesie aufgedrückt ist. Und dieser Unterschied läßt <lb n="ple_186.042"/> sich durch die ganze weitere Geschichte der Balladendichtung verfolgen. <lb n="ple_186.043"/> Auch bei Uhland tritt er hervor: der getragene Ton seiner vorhin angeführten </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [186/0200]
ple_186.001
der Romantiker, besonders Brentanos und Eichendorffs, tragen nicht selten ple_186.002
einen ausgesprochenen lyrischen Charakter: der gegenständliche Inhalt ple_186.003
wächst hier erst aus der Stimmung hervor, nicht umgekehrt, wie bei den ple_186.004
bisher erwähnten Gedichten. Ein Beispiel ist das Eichendorffsche Gedicht ple_186.005
„Der stille Grund“. Die Nixe, die den nächtlichen Wanderer in ple_186.006
ihre Kreise lockt, ist nichts als die Verkörperung der mondbeglänzten Nacht, ple_186.007
welche die Menschen wie die Täler weit und breit verwirret. — Andrerseits ple_186.008
ist eine Verbindung des Balladenhaften mit der eigentlich epischen ple_186.009
Erzählung ebenso wohl möglich, und die meisten großen und ausgeführten ple_186.010
Balladen Goethes stellen eine solche dar. Dabei kann selbst in längerer ple_186.011
Erzählung der dramatisch-lyrische Charakter überwiegen, wie das in Goethes ple_186.012
Gott und Bajadere, aber auch schon in Bürgers Leonore der Fall ist. Es ple_186.013
können aber auch rein epische und echt balladenhafte Teile eines Gedichts ple_186.014
nebeneinander stehen, und die Kunst des Dichters zeigt sich eben darin, ple_186.015
beide ohne fühlbare Diskrepanz ineinander überzuführen. Das Meisterstück ple_186.016
dieser Gattung ist die Braut von Korinth. Der Anfang setzt vollkommen ple_186.017
episch ein (siehe oben S. 82 f.); und die Erzählung wahrt diesen ple_186.018
Charakter, bis sie mit der sich entflammenden Leidenschaft des Jünglings ple_186.019
allmählich die beschauliche Ruhe aufgibt und selbst dramatische Färbung ple_186.020
annimmt. Aber auch noch im Moment der höchsten Steigerung weiß der ple_186.021
Dichter eine sehr glückliche Kontrastwirkung zu erreichen, indem er plötzlich ple_186.022
retardierend in den epischen Ton zurückfällt: ple_186.023
Unterdessen schleichet auf dem Gange ple_186.024
Häuslich spät die Mutter noch vorbei, ple_186.025
Horchet an der Tür und horchet lange, ple_186.026
Welch ein sonderbarer Ton das sei. ple_186.027
Klag- und Wonnelaut ple_186.028
Bräutigams und Braut ple_186.029
Und des Liebesstammelns Raserei.
ple_186.030
Unbeweglich bleibt sie an der Türe, ple_186.031
Weil sie erst sich überzeugen muß ....
ple_186.032
Schillers poetische Erzählungen dagegen gehören durchweg, mit einziger ple_186.033
Ausnahme des Ritter Toggenburg und allenfalls des Tauchers, der ple_186.034
reinen Epik an; und wiewohl der Dichter gelegentlich versucht, durch ple_186.035
Weglassung von Namen und Nebenumständen ihnen etwas vom Charakter ple_186.036
der Ballade zu verleihen, so tragen sie gleichwohl diesen Namen mit ple_186.037
Unrecht.
ple_186.038
In Goethes Dichtung können wir deutlich solche Balladen, die den ple_186.039
ursprünglich volkstümlichen Charakter rein bewahrt haben, von solchen unterscheiden, ple_186.040
denen durch Sprache und Ton, zum Teil auch durch den Inhalt ple_186.041
das Gepräge der Kunstpoesie aufgedrückt ist. Und dieser Unterschied läßt ple_186.042
sich durch die ganze weitere Geschichte der Balladendichtung verfolgen. ple_186.043
Auch bei Uhland tritt er hervor: der getragene Ton seiner vorhin angeführten
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |