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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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ist, daß, wie Goethe es ausdrückt, "die Personen der griechischen Tragödie ple_191.002
eigentlich nur idealische Masken" sind, hängt offenbar aufs engste mit ple_191.003
dieser Natur ihrer Gegenstände zusammen (vergl. oben S. 179). Daher mag ple_191.004
zwar eine stilisierende Formenkunst, wie es die klassische Tragödie der ple_191.005
Franzosen war, sich mythischer Stoffe ohne Nachteil bedienen; einen ple_191.006
solchen aber mit modernem Lebensgefühl zu erfüllen, ist nur ausnahmsweise ple_191.007
einem überragenden Genius geglückt: Goethes Iphigenie ist das ple_191.008
einzige vollkommene Beispiel in der modernen Poesie, und auch sie ist ple_191.009
als Kunstwerk nur dadurch möglich geworden, daß der Dichter sich auf ple_191.010
eine großzügige und dem Typischen angenäherte Seelenmalerei beschränkt ple_191.011
hat. Nach ihr dürfen Grillparzers Goldenes Vließ und auch Hebbels Gyges ple_191.012
genannt werden, wiewohl der Widerstreit zwischen dem Phantastischen, ple_191.013
zum Teil auch Brutalen der Handlungen und dem verfeinerten psychologischen ple_191.014
Empfinden der modernen Dichter hier schon unverkennbar hervortritt.

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Höchst lehrreich sind in dieser Hinsicht zwei Dramen aus den letzten ple_191.017
Jahren: Hugo v. Hofmannsthals Elektra und desselben Dichters "Ödipus ple_191.018
und die Sphinx". Besonders die Elektra ist ein interessanter Versuch, die ple_191.019
tragische Dichtung des Sophokles zu erneuern, indem die Handlung fast ple_191.020
Szene für Szene dem großen attischen Tragiker entnommen, aber mit dem ple_191.021
ganzen Raffinement moderner Individualpsychologie und gleichzeitig mit ple_191.022
Gesichtspunkten kulturhistorischen Charakters erfüllt wird. Allein dieser ple_191.023
Versuch, mit soviel Geist und Sprachgewalt er unternommen ist, scheitert ple_191.024
an der Natur des Stoffes, und gerade Hofmannsthals Dichtung zeigt deutlich, ple_191.025
warum er scheitern muß. Die Atridensage und ihre Darstellung wirkt auf ple_191.026
uns nur so lange ästhetisch, wie wir sie in einer gewissen Entfernung und mit ple_191.027
dem Gefühl des Abstandes sehen, nur solange die handelnden Personen als ple_191.028
Heroen in übermenschlicher Größe und mit einer gewissen Fremdartigkeit ple_191.029
vor uns hintreten. Sobald wir aber den Eindruck bekommen, daß diese Personen ple_191.030
Menschen sind, die fühlen und empfinden, leiden und handeln wie wir ple_191.031
selbst, so ist uns der Muttermord auf der Bühne, so sind uns die übrigen ple_191.032
Greueltaten, von denen die Sage berichtet, unerträglich. Wenn wir sie glauben ple_191.033
müssen -- und der Dichter zwingt uns dazu --, so fallen sie uns auf die ple_191.034
Nerven, erregen Abscheu und lassen keine künstlerische Erhebung aufkommen. ple_191.035
Diese deprimierende Wirkung hat wohl jeder erfahren, der Hofmannsthals ple_191.036
Elektra einmal in einer guten Aufführung gesehen hat, und das ple_191.037
absprechende Urteil der Vertreter der Altertumswissenschaften wird hieraus ple_191.038
begreiflich, wenngleich es der dichterischen Bedeutsamkeit des Versuchs ple_191.039
nicht gerecht geworden ist.

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Weit eher als für die psychologisch vertiefende Durchbildung sind ple_191.041
mythische Stoffe für die musikalische Behandlung geeignet, wie ja auch die ple_191.042
antike Tragödie zum Teil ein musikalisches Kunstwerk war. Es ist daher ple_191.043
begreiflich, daß die Oper der späteren Renaissance und der klassischen

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ist, daß, wie Goethe es ausdrückt, „die Personen der griechischen Tragödie ple_191.002
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Franzosen war, sich mythischer Stoffe ohne Nachteil bedienen; einen ple_191.006
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zum Teil auch Brutalen der Handlungen und dem verfeinerten psychologischen ple_191.014
Empfinden der modernen Dichter hier schon unverkennbar hervortritt.

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Höchst lehrreich sind in dieser Hinsicht zwei Dramen aus den letzten ple_191.017
Jahren: Hugo v. Hofmannsthals Elektra und desselben Dichters „Ödipus ple_191.018
und die Sphinx“. Besonders die Elektra ist ein interessanter Versuch, die ple_191.019
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uns nur so lange ästhetisch, wie wir sie in einer gewissen Entfernung und mit ple_191.027
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Heroen in übermenschlicher Größe und mit einer gewissen Fremdartigkeit ple_191.029
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Diese deprimierende Wirkung hat wohl jeder erfahren, der Hofmannsthals ple_191.036
Elektra einmal in einer guten Aufführung gesehen hat, und das ple_191.037
absprechende Urteil der Vertreter der Altertumswissenschaften wird hieraus ple_191.038
begreiflich, wenngleich es der dichterischen Bedeutsamkeit des Versuchs ple_191.039
nicht gerecht geworden ist.

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Weit eher als für die psychologisch vertiefende Durchbildung sind ple_191.041
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[191/0205] ple_191.001 ist, daß, wie Goethe es ausdrückt, „die Personen der griechischen Tragödie ple_191.002 eigentlich nur idealische Masken“ sind, hängt offenbar aufs engste mit ple_191.003 dieser Natur ihrer Gegenstände zusammen (vergl. oben S. 179). Daher mag ple_191.004 zwar eine stilisierende Formenkunst, wie es die klassische Tragödie der ple_191.005 Franzosen war, sich mythischer Stoffe ohne Nachteil bedienen; einen ple_191.006 solchen aber mit modernem Lebensgefühl zu erfüllen, ist nur ausnahmsweise ple_191.007 einem überragenden Genius geglückt: Goethes Iphigenie ist das ple_191.008 einzige vollkommene Beispiel in der modernen Poesie, und auch sie ist ple_191.009 als Kunstwerk nur dadurch möglich geworden, daß der Dichter sich auf ple_191.010 eine großzügige und dem Typischen angenäherte Seelenmalerei beschränkt ple_191.011 hat. Nach ihr dürfen Grillparzers Goldenes Vließ und auch Hebbels Gyges ple_191.012 genannt werden, wiewohl der Widerstreit zwischen dem Phantastischen, ple_191.013 zum Teil auch Brutalen der Handlungen und dem verfeinerten psychologischen ple_191.014 Empfinden der modernen Dichter hier schon unverkennbar hervortritt. ple_191.015 ple_191.016 Höchst lehrreich sind in dieser Hinsicht zwei Dramen aus den letzten ple_191.017 Jahren: Hugo v. Hofmannsthals Elektra und desselben Dichters „Ödipus ple_191.018 und die Sphinx“. Besonders die Elektra ist ein interessanter Versuch, die ple_191.019 tragische Dichtung des Sophokles zu erneuern, indem die Handlung fast ple_191.020 Szene für Szene dem großen attischen Tragiker entnommen, aber mit dem ple_191.021 ganzen Raffinement moderner Individualpsychologie und gleichzeitig mit ple_191.022 Gesichtspunkten kulturhistorischen Charakters erfüllt wird. Allein dieser ple_191.023 Versuch, mit soviel Geist und Sprachgewalt er unternommen ist, scheitert ple_191.024 an der Natur des Stoffes, und gerade Hofmannsthals Dichtung zeigt deutlich, ple_191.025 warum er scheitern muß. Die Atridensage und ihre Darstellung wirkt auf ple_191.026 uns nur so lange ästhetisch, wie wir sie in einer gewissen Entfernung und mit ple_191.027 dem Gefühl des Abstandes sehen, nur solange die handelnden Personen als ple_191.028 Heroen in übermenschlicher Größe und mit einer gewissen Fremdartigkeit ple_191.029 vor uns hintreten. Sobald wir aber den Eindruck bekommen, daß diese Personen ple_191.030 Menschen sind, die fühlen und empfinden, leiden und handeln wie wir ple_191.031 selbst, so ist uns der Muttermord auf der Bühne, so sind uns die übrigen ple_191.032 Greueltaten, von denen die Sage berichtet, unerträglich. Wenn wir sie glauben ple_191.033 müssen — und der Dichter zwingt uns dazu —, so fallen sie uns auf die ple_191.034 Nerven, erregen Abscheu und lassen keine künstlerische Erhebung aufkommen. ple_191.035 Diese deprimierende Wirkung hat wohl jeder erfahren, der Hofmannsthals ple_191.036 Elektra einmal in einer guten Aufführung gesehen hat, und das ple_191.037 absprechende Urteil der Vertreter der Altertumswissenschaften wird hieraus ple_191.038 begreiflich, wenngleich es der dichterischen Bedeutsamkeit des Versuchs ple_191.039 nicht gerecht geworden ist. ple_191.040 Weit eher als für die psychologisch vertiefende Durchbildung sind ple_191.041 mythische Stoffe für die musikalische Behandlung geeignet, wie ja auch die ple_191.042 antike Tragödie zum Teil ein musikalisches Kunstwerk war. Es ist daher ple_191.043 begreiflich, daß die Oper der späteren Renaissance und der klassischen

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/205>, abgerufen am 21.11.2024.