Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_193.001 ple_193.015 ple_193.001 ple_193.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0207" n="193"/><lb n="ple_193.001"/> Tragödie (Cinna, Athalie) hält sich deutlich auf demselben <lb n="ple_193.002"/> Standpunkt. Aber auch Dichtungen wie Schillers Fiesko und besonders <lb n="ple_193.003"/> Goethes Egmont haben im Grunde noch das gleiche Verhältnis zur Geschichte. <lb n="ple_193.004"/> Lessing schreibt in einer Reihe von Stellen der Dramaturgie den <lb n="ple_193.005"/> Wert solcher Stoffe ausschließlich der Bedeutsamkeit der überlieferten <lb n="ple_193.006"/> Charaktere zu, während ihm die „Fakta“ gleichgültig erscheinen; daher <lb n="ple_193.007"/> er dem Dichter auch das Recht zuspricht, mit diesen umzuspringen, wie <lb n="ple_193.008"/> es ihm beliebt, solange nur die Charaktere nicht beeinträchtigt werden <lb n="ple_193.009"/> (Stück 23, 24, 31–34). Tatsächlich würde sich hiernach für die geschichtlichen <lb n="ple_193.010"/> Stoffe nahezu die gleiche Bildsamkeit und Veränderungsfähigkeit <lb n="ple_193.011"/> ergeben wie für die mythischen; denn auch hier stehen ja die Gestalten <lb n="ple_193.012"/> in großen Zügen fest, während die Handlungen im einzelnen vielfach verändert <lb n="ple_193.013"/> und zu dichterischen Zwecken umgeformt werden können: es würde <lb n="ple_193.014"/> somit ein Wesensunterschied kaum noch erkennbar sein.</p> <p><lb n="ple_193.015"/> Nun aber hat das Interesse an der historischen Dichtung noch eine <lb n="ple_193.016"/> Quelle ganz anderer Art. Es ist der geschichtliche Sinn in der eigentlichen <lb n="ple_193.017"/> Bedeutung des Wortes, der Reiz, den alles, was einmal war, unmittelbar <lb n="ple_193.018"/> auf uns ausübt, die Freude daran, eine vergangene Welt mit <lb n="ple_193.019"/> ihren Menschen und Verhältnissen, die uns so nah und doch so fern <lb n="ple_193.020"/> stehen, in der Phantasie anzuschauen und ihr Leben zu erneuen. Dieses <lb n="ple_193.021"/> Interesse ist um so stärker, wenn wir die dargestellte Welt als <hi rendition="#g">unsere</hi> <lb n="ple_193.022"/> Vergangenheit empfinden, d. h. wenn wir uns durch die Einheit der Nationalität <lb n="ple_193.023"/> oder der Kultur mit ihr verbunden fühlen. Die Historiendichtung <lb n="ple_193.024"/> in diesem Sinne tritt uns zuerst in der englischen Literatur, vor allem bei <lb n="ple_193.025"/> Shakespeare entgegen; und auch hierin zeigt sich der tiefe Gegensatz <lb n="ple_193.026"/> zwischen dem Charakter dieser und der französischen Renaissancedichtung. — <lb n="ple_193.027"/> Im Gegensatz zu den Franzosen, aber freilich auch zu Lessings rationalistisch <lb n="ple_193.028"/> einseitiger Auffassung, schuf dann Goethe mit dem Götz die erste <lb n="ple_193.029"/> geschichtlich empfundene Historiendichtung der Deutschen; mit liebevollem <lb n="ple_193.030"/> Verständnis wandte er sich der Vergangenheit des eigenen Volkes zu und <lb n="ple_193.031"/> bildete mit freudigem Interesse die nationalen Charakterzüge nach, die <lb n="ple_193.032"/> ihm als die dauernd wertvollen erschienen. Auf umfassendere geschichtliche <lb n="ple_193.033"/> Studien begründet, von tieferem Verständnis für vergangene Wirklichkeit und <lb n="ple_193.034"/> einer kräftigeren historischen Phantasie getragen, erstand im Wallenstein <lb n="ple_193.035"/> die größte geschichtliche Dichtung des 18. Jahrhunderts, ja, der deutschen <lb n="ple_193.036"/> Literatur überhaupt. Auf einer breiten Unterlage treuer und ins einzelne <lb n="ple_193.037"/> durchgeführter Schilderung der Menschen und Verhältnisse, der Soldaten, <lb n="ple_193.038"/> Offiziere und Staatsmänner des dreißigjährigen Krieges erhebt sich das <lb n="ple_193.039"/> monumentale Bild des Helden, plastisch zugleich und lebendig, seine nicht <lb n="ple_193.040"/> minder lebensvoll dargestellte Umgebung überragend, der künstlerisch <lb n="ple_193.041"/> entworfene allgemeine Typus einer genialen Herrschernatur und doch zugleich <lb n="ple_193.042"/> mit jeder Faser ein Sohn seiner Zeit, ihrer geschichtlich gegebenen <lb n="ple_193.043"/> Verhältnisse und Anschauungen. Schiller selbst hat die Höhe dieser Meisterschöpfung </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [193/0207]
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Tragödie (Cinna, Athalie) hält sich deutlich auf demselben ple_193.002
Standpunkt. Aber auch Dichtungen wie Schillers Fiesko und besonders ple_193.003
Goethes Egmont haben im Grunde noch das gleiche Verhältnis zur Geschichte. ple_193.004
Lessing schreibt in einer Reihe von Stellen der Dramaturgie den ple_193.005
Wert solcher Stoffe ausschließlich der Bedeutsamkeit der überlieferten ple_193.006
Charaktere zu, während ihm die „Fakta“ gleichgültig erscheinen; daher ple_193.007
er dem Dichter auch das Recht zuspricht, mit diesen umzuspringen, wie ple_193.008
es ihm beliebt, solange nur die Charaktere nicht beeinträchtigt werden ple_193.009
(Stück 23, 24, 31–34). Tatsächlich würde sich hiernach für die geschichtlichen ple_193.010
Stoffe nahezu die gleiche Bildsamkeit und Veränderungsfähigkeit ple_193.011
ergeben wie für die mythischen; denn auch hier stehen ja die Gestalten ple_193.012
in großen Zügen fest, während die Handlungen im einzelnen vielfach verändert ple_193.013
und zu dichterischen Zwecken umgeformt werden können: es würde ple_193.014
somit ein Wesensunterschied kaum noch erkennbar sein.
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Nun aber hat das Interesse an der historischen Dichtung noch eine ple_193.016
Quelle ganz anderer Art. Es ist der geschichtliche Sinn in der eigentlichen ple_193.017
Bedeutung des Wortes, der Reiz, den alles, was einmal war, unmittelbar ple_193.018
auf uns ausübt, die Freude daran, eine vergangene Welt mit ple_193.019
ihren Menschen und Verhältnissen, die uns so nah und doch so fern ple_193.020
stehen, in der Phantasie anzuschauen und ihr Leben zu erneuen. Dieses ple_193.021
Interesse ist um so stärker, wenn wir die dargestellte Welt als unsere ple_193.022
Vergangenheit empfinden, d. h. wenn wir uns durch die Einheit der Nationalität ple_193.023
oder der Kultur mit ihr verbunden fühlen. Die Historiendichtung ple_193.024
in diesem Sinne tritt uns zuerst in der englischen Literatur, vor allem bei ple_193.025
Shakespeare entgegen; und auch hierin zeigt sich der tiefe Gegensatz ple_193.026
zwischen dem Charakter dieser und der französischen Renaissancedichtung. — ple_193.027
Im Gegensatz zu den Franzosen, aber freilich auch zu Lessings rationalistisch ple_193.028
einseitiger Auffassung, schuf dann Goethe mit dem Götz die erste ple_193.029
geschichtlich empfundene Historiendichtung der Deutschen; mit liebevollem ple_193.030
Verständnis wandte er sich der Vergangenheit des eigenen Volkes zu und ple_193.031
bildete mit freudigem Interesse die nationalen Charakterzüge nach, die ple_193.032
ihm als die dauernd wertvollen erschienen. Auf umfassendere geschichtliche ple_193.033
Studien begründet, von tieferem Verständnis für vergangene Wirklichkeit und ple_193.034
einer kräftigeren historischen Phantasie getragen, erstand im Wallenstein ple_193.035
die größte geschichtliche Dichtung des 18. Jahrhunderts, ja, der deutschen ple_193.036
Literatur überhaupt. Auf einer breiten Unterlage treuer und ins einzelne ple_193.037
durchgeführter Schilderung der Menschen und Verhältnisse, der Soldaten, ple_193.038
Offiziere und Staatsmänner des dreißigjährigen Krieges erhebt sich das ple_193.039
monumentale Bild des Helden, plastisch zugleich und lebendig, seine nicht ple_193.040
minder lebensvoll dargestellte Umgebung überragend, der künstlerisch ple_193.041
entworfene allgemeine Typus einer genialen Herrschernatur und doch zugleich ple_193.042
mit jeder Faser ein Sohn seiner Zeit, ihrer geschichtlich gegebenen ple_193.043
Verhältnisse und Anschauungen. Schiller selbst hat die Höhe dieser Meisterschöpfung
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