Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_194.001 ple_194.027 ple_194.001 ple_194.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0208" n="194"/><lb n="ple_194.001"/> nicht wieder erreicht, und sie ist trotz allem, was man gegen <lb n="ple_194.002"/> Einzelheiten mit mehr oder weniger Recht eingewendet hat, in der Kraft <lb n="ple_194.003"/> und Tiefe ihrer Charakterschilderung, in dem Reichtum der historischen <lb n="ple_194.004"/> Anschauungen ein Vorbild für jede spätere geschichtliche Dichtung geblieben. <lb n="ple_194.005"/> Ihr gewaltiger Einfluß zeigt sich darin, daß die bloß typische und <lb n="ple_194.006"/> unhistorische Behandlung historischer Stoffe fortan unmöglich wurde. Zwar <lb n="ple_194.007"/> hat Schiller in der Maria Stuart und in der Jungfrau von Orleans in dieser <lb n="ple_194.008"/> Hinsicht selber Schritte nach rückwärts getan, besonders die Jungfrau ist <lb n="ple_194.009"/> ein interessanter Versuch, geschichtliche Ereignisse in die typische Allgemeinheit <lb n="ple_194.010"/> und Voraussetzungslosigkeit mythischen Geschehens aufzulösen. <lb n="ple_194.011"/> Auch vom Tell könnte man etwas Ähnliches sagen, wenn hier nicht das <lb n="ple_194.012"/> kulturhistorische und landschaftliche Element eine sehr bestimmte Ausprägung <lb n="ple_194.013"/> erhalten hätte. Aber im Demetrius ist der Dichter entschieden <lb n="ple_194.014"/> zu den Grundsätzen des Wallenstein zurückgekehrt, und die historische <lb n="ple_194.015"/> Dichtung des 19. Jahrhunderts bekennt sich fast ausnahmslos zu diesen <lb n="ple_194.016"/> Grundsätzen, d. h. sie strebt anschauliche Wiederbelebung der Vergangenheit <lb n="ple_194.017"/> in ihren festen Umrissen und ihrer geschichtlich bestimmten Eigenart <lb n="ple_194.018"/> an, natürlich ist es den Dichtern je nach ihrer Begabung in sehr verschiedenem <lb n="ple_194.019"/> Maße gelungen, das Ziel zu erreichen. — Von Anfang an ist <lb n="ple_194.020"/> diese Richtung aufs anschaulich Historische für die geschichtliche Roman- <lb n="ple_194.021"/> und Novellendichtung maßgebend gewesen, von der wir im 13. Abschnitt <lb n="ple_194.022"/> (S. 157) gehandelt haben. Walter Scott und Willibald Alexis, Viktor Scheffel <lb n="ple_194.023"/> wie W. Riehl und Konrad Ferdinand Meyer stimmen bei aller sonstigen <lb n="ple_194.024"/> Verschiedenheit ihres künstlerischen Charakters darin überein, daß sie die <lb n="ple_194.025"/> Vergangenheit in ihrem eigenartig bestimmten Leben, und nicht nur in <lb n="ple_194.026"/> ihrer typischen Bedeutsamkeit, lebendig machen wollen.</p> <p><lb n="ple_194.027"/> Hiermit erwächst nun aber der Historiendichtung eine entscheidende <lb n="ple_194.028"/> Schwierigkeit. Das Bedürfnis nach psychologischer Vertiefung, nach Intimität <lb n="ple_194.029"/> in der Schilderung seelischer Zustände und Vorgänge, hat im <lb n="ple_194.030"/> Laufe der letzten Menschenalter immer mehr zugenommen und auch die <lb n="ple_194.031"/> Auffassung geschichtlicher Vergangenheit aufs entschiedenste beeinflußt. <lb n="ple_194.032"/> Weder auf der Bühne noch im historischen Roman ertragen wir die Könige, <lb n="ple_194.033"/> die mit der Krone zu Bette gehen, wie im Kindermärchen. Das weltgeschichtliche <lb n="ple_194.034"/> Posieren, die programmatischen Reden und Wendungen, <lb n="ple_194.035"/> an denen die ältere historische Dichtung so reich ist, erscheint dem <lb n="ple_194.036"/> verfeinerten geschichtlichen Gefühl hohl und äußerlich. Wir wollen die <lb n="ple_194.037"/> seelischen Seiten der Vorgänge, das menschlich Charakteristische auch in <lb n="ple_194.038"/> den Personen der Geschichte erblicken. Wenn uns die Dichtung dies nicht <lb n="ple_194.039"/> zu zeigen vermag, so wenden wir uns lieber an die großen Historiker selbst, <lb n="ple_194.040"/> um das, was sie bieten, aus erster Hand zu schöpfen. Denn auch die <lb n="ple_194.041"/> Kenntnis der Geschichte hat ja in den letzten Menschenaltern an Fülle <lb n="ple_194.042"/> und Leben wie an Tiefe und Innerlichkeit gewaltig gewonnen, und die <lb n="ple_194.043"/> Lebensarbeit der großen Geschichtsschreiber von Niebuhr und Ranke an </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [194/0208]
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nicht wieder erreicht, und sie ist trotz allem, was man gegen ple_194.002
Einzelheiten mit mehr oder weniger Recht eingewendet hat, in der Kraft ple_194.003
und Tiefe ihrer Charakterschilderung, in dem Reichtum der historischen ple_194.004
Anschauungen ein Vorbild für jede spätere geschichtliche Dichtung geblieben. ple_194.005
Ihr gewaltiger Einfluß zeigt sich darin, daß die bloß typische und ple_194.006
unhistorische Behandlung historischer Stoffe fortan unmöglich wurde. Zwar ple_194.007
hat Schiller in der Maria Stuart und in der Jungfrau von Orleans in dieser ple_194.008
Hinsicht selber Schritte nach rückwärts getan, besonders die Jungfrau ist ple_194.009
ein interessanter Versuch, geschichtliche Ereignisse in die typische Allgemeinheit ple_194.010
und Voraussetzungslosigkeit mythischen Geschehens aufzulösen. ple_194.011
Auch vom Tell könnte man etwas Ähnliches sagen, wenn hier nicht das ple_194.012
kulturhistorische und landschaftliche Element eine sehr bestimmte Ausprägung ple_194.013
erhalten hätte. Aber im Demetrius ist der Dichter entschieden ple_194.014
zu den Grundsätzen des Wallenstein zurückgekehrt, und die historische ple_194.015
Dichtung des 19. Jahrhunderts bekennt sich fast ausnahmslos zu diesen ple_194.016
Grundsätzen, d. h. sie strebt anschauliche Wiederbelebung der Vergangenheit ple_194.017
in ihren festen Umrissen und ihrer geschichtlich bestimmten Eigenart ple_194.018
an, natürlich ist es den Dichtern je nach ihrer Begabung in sehr verschiedenem ple_194.019
Maße gelungen, das Ziel zu erreichen. — Von Anfang an ist ple_194.020
diese Richtung aufs anschaulich Historische für die geschichtliche Roman- ple_194.021
und Novellendichtung maßgebend gewesen, von der wir im 13. Abschnitt ple_194.022
(S. 157) gehandelt haben. Walter Scott und Willibald Alexis, Viktor Scheffel ple_194.023
wie W. Riehl und Konrad Ferdinand Meyer stimmen bei aller sonstigen ple_194.024
Verschiedenheit ihres künstlerischen Charakters darin überein, daß sie die ple_194.025
Vergangenheit in ihrem eigenartig bestimmten Leben, und nicht nur in ple_194.026
ihrer typischen Bedeutsamkeit, lebendig machen wollen.
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Hiermit erwächst nun aber der Historiendichtung eine entscheidende ple_194.028
Schwierigkeit. Das Bedürfnis nach psychologischer Vertiefung, nach Intimität ple_194.029
in der Schilderung seelischer Zustände und Vorgänge, hat im ple_194.030
Laufe der letzten Menschenalter immer mehr zugenommen und auch die ple_194.031
Auffassung geschichtlicher Vergangenheit aufs entschiedenste beeinflußt. ple_194.032
Weder auf der Bühne noch im historischen Roman ertragen wir die Könige, ple_194.033
die mit der Krone zu Bette gehen, wie im Kindermärchen. Das weltgeschichtliche ple_194.034
Posieren, die programmatischen Reden und Wendungen, ple_194.035
an denen die ältere historische Dichtung so reich ist, erscheint dem ple_194.036
verfeinerten geschichtlichen Gefühl hohl und äußerlich. Wir wollen die ple_194.037
seelischen Seiten der Vorgänge, das menschlich Charakteristische auch in ple_194.038
den Personen der Geschichte erblicken. Wenn uns die Dichtung dies nicht ple_194.039
zu zeigen vermag, so wenden wir uns lieber an die großen Historiker selbst, ple_194.040
um das, was sie bieten, aus erster Hand zu schöpfen. Denn auch die ple_194.041
Kenntnis der Geschichte hat ja in den letzten Menschenaltern an Fülle ple_194.042
und Leben wie an Tiefe und Innerlichkeit gewaltig gewonnen, und die ple_194.043
Lebensarbeit der großen Geschichtsschreiber von Niebuhr und Ranke an
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