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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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ist auf die historische Bildung des deutschen Publikums nicht ohne Einfluß ple_195.002
geblieben. Aber der Zuwachs an geschichtlichem Wissen und Verstehen ple_195.003
bleibt hinter der Steigerung des historischen Sinnes und des ple_195.004
psychologischen Bedürfnisses notwendigerweise zurück. Je schärfer wir ple_195.005
den Blick einzustellen gelernt haben, desto deutlicher bemerken wir den ple_195.006
Mangel scharfer Umrisse in den Fernen geschichtlichen Geschehens. Je ple_195.007
mehr wir gelernt haben, uns selbst und das innere Leben unserer Zeitgenossen ple_195.008
zu belauschen, desto stärker empfinden wir es, daß die Zeit, ple_195.009
oft schon weniger Generationen, eine trennende Macht ist, daß die ple_195.010
Menschen der Vergangenheit nicht so fühlten und wollten wie wir und daß ple_195.011
auch die großen allgemein menschlichen Züge in den verschiedenen Zeiten ple_195.012
und Breiten besondere Färbungen, unscheinbare und doch wesentliche Abweichungen ple_195.013
zeigen, die wir schwer oder gar nicht fassen können. Daher ple_195.014
kann es heutzutage nur einem außergewöhnlich glücklichen Zusammentreffen ple_195.015
gelingen, eine Historiendichtung hervorzubringen, die unserem künstlerischen ple_195.016
und geschichtlichen Bedürfnis gleichmäßig entspricht. Nur wo ple_195.017
ein Dichter, der die Tiefen seelischen Geschehens zu erfassen und darzustellen ple_195.018
vermag, sich mit andauerndem Studium in ein Zeitalter hineinlebt, ple_195.019
für welches die Quellen einigermaßen reichlich fließen, nur da wird ple_195.020
es ihm glücken, Menschen und Ereignisse lebendig zu machen, und kaum ple_195.021
für mehr als ein solches Zeitalter wird die Kraft und der Raum eines ple_195.022
Dichterlebens ausreichen. So hat es Konrad Ferdinand Meyer vermocht, ple_195.023
die Zeiten der Renaissance und der Gegenreformation zu psychologisch ple_195.024
echter und künstlerisch lebendiger Wirkung zu bringen.

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Mit der Hebung des historischen Sinnes hängt es ferner zusammen, ple_195.026
daß jene Scheidung zwischen Tatsachen und Charakteren, durch die Lessing ple_195.027
dem Historiendichter Freiheit schaffen wollte, sich nicht aufrecht erhalten ple_195.028
läßt. Wir wissen zu genau, wie eng und notwendig beide miteinander ple_195.029
verknüpft sind, als daß es uns möglich schiene, sie zu trennen: wenn ple_195.030
Lessing es als gleichgültig ansieht, ob die liebende und eifersüchtige ple_195.031
Elisabeth des Essex-Dramas achtundsechzig oder dreißig Jahre alt ist, so ple_195.032
irrt er offenbar: es ist das nicht bloß ein äußerlicher Umstand, sondern er ple_195.033
verändert den psychologischen Charakter der Vorgänge von Grund aus.

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Andrerseits erhöht auch die zunehmende Sicherheit und Verbreitung ple_195.035
historischer Kenntnisse die Schwierigkeit seiner Aufgabe für den Historiendichter. ple_195.036
Denn sie erschwert es ihm, dem Bedürfnis nach psychologischem ple_195.037
Verständnis in der unmittelbarsten Weise, nämlich durch freie dichterische ple_195.038
Phantasie, entgegenzukommen. Die Dichter des 18. Jahrhunderts machten ple_195.039
sich keinerlei Gewissensbedenken daraus, geschichtliche Ereignisse da, wo ple_195.040
sie nicht verständlich oder mit dem seelischen Leben ihrer Gestalten nicht ple_195.041
im inneren Einklang schienen, nach Belieben abzuändern. Wir wissen, ple_195.042
wie Goethe mit dem geschichtlichen Egmont, wie Schiller mit Elisabeth ple_195.043
und Maria Stuart, mit den englisch-französischen Eroberungskriegen umgesprungen

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psychologischen Bedürfnisses notwendigerweise zurück. Je schärfer wir ple_195.005
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Mit der Hebung des historischen Sinnes hängt es ferner zusammen, ple_195.026
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Elisabeth des Essex-Dramas achtundsechzig oder dreißig Jahre alt ist, so ple_195.032
irrt er offenbar: es ist das nicht bloß ein äußerlicher Umstand, sondern er ple_195.033
verändert den psychologischen Charakter der Vorgänge von Grund aus.

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Andrerseits erhöht auch die zunehmende Sicherheit und Verbreitung ple_195.035
historischer Kenntnisse die Schwierigkeit seiner Aufgabe für den Historiendichter. ple_195.036
Denn sie erschwert es ihm, dem Bedürfnis nach psychologischem ple_195.037
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/209>, abgerufen am 24.11.2024.