Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_196.001 ple_196.010 ple_196.023 ple_196.033 1) ple_196.040 "Der Dichter wird sich zu hüten haben, daß in seiner Erfinduug nicht ein für ple_196.041 seine Zeitgenossen empfindlicher Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete." ple_196.042 (Technik des Dramas S. 1510.) 2) ple_196.043
Vgl. Gustav Freytag a. a. O. S. 237, 238. ple_196.001 ple_196.010 ple_196.023 ple_196.033 1) ple_196.040 „Der Dichter wird sich zu hüten haben, daß in seiner Erfinduug nicht ein für ple_196.041 seine Zeitgenossen empfindlicher Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete.“ ple_196.042 (Technik des Dramas S. 1510.) 2) ple_196.043
Vgl. Gustav Freytag a. a. O. S. 237, 238. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0210" n="196"/><lb n="ple_196.001"/> ist. Aber eine solche Methode ist nur da möglich, wo das <lb n="ple_196.002"/> Publikum die historische Wirklichkeit nicht kennt oder wenigstens kein <lb n="ple_196.003"/> lebendiges Bild von ihr hat. Schon Gustav Freytag bemerkt sehr richtig, <lb n="ple_196.004"/> daß der Dichter in dieser Hinsicht von dem Wissensstande seines Publikums <lb n="ple_196.005"/> abhängt.<note xml:id="ple_196_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_196.040"/> „Der Dichter wird sich zu hüten haben, daß in seiner Erfinduug nicht ein <hi rendition="#g">für <lb n="ple_196.041"/> seine Zeitgenossen empfindlicher</hi> Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete.“ <lb n="ple_196.042"/> (Technik des Dramas S. 15<hi rendition="#sup">10</hi>.)</note> Denn es ist unerträglich und muß jede künstlerische <lb n="ple_196.006"/> Wirkung hemmen oder vernichten, wenn die Vorgänge, die wir auf der <lb n="ple_196.007"/> Bühne sehen oder gar in ruhiger Beschaulichkeit lesen, mit unserem Wirklichkeitssinn <lb n="ple_196.008"/> in Zwiespalt geraten, wenn unser besseres Wissen dem Dichter <lb n="ple_196.009"/> widerspricht.</p> <p><lb n="ple_196.010"/> Kurz, die geschichtlichen Stoffe haben die Vorzüge verloren, die <lb n="ple_196.011"/> ihnen früher mit dem Mythos gemeinsam waren. Sie haben ihre Bildsamkeit <lb n="ple_196.012"/> eingebüßt, und selbst die Großzügigkeit der Vorgänge gerät mit dem <lb n="ple_196.013"/> psychologischen Bedürfnis und dem verfeinerten historischen Sinn des <lb n="ple_196.014"/> modernen Geistes leicht in Widerspruch. Wir lassen uns die Al Fresco- <lb n="ple_196.015"/> Malerei Dahnscher Romane oder Wildenbruchscher Tragödien gefallen, <lb n="ple_196.016"/> allein sie haben, auch wenn sie uns im Augenblick erschüttern, für unser <lb n="ple_196.017"/> Gefühl etwas Opernhaftes und wir behalten keine nachhaltige Wirkung <lb n="ple_196.018"/> zurück. Noch weit entschiedener aber wachsen Ansprüche und Schwierigkeiten, <lb n="ple_196.019"/> wenn der Dichter einen Stoff aus der nahen und nächsten Vergangenheit <lb n="ple_196.020"/> behandelt. Man sieht wohl den Grund, warum es bisher zu <lb n="ple_196.021"/> einer dichterischen Gestaltung Friedrichs des Großen noch niemals, zu <lb n="ple_196.022"/> einer solchen Napoleons nur vereinzelterweise gekommen ist.<note xml:id="ple_196_2" place="foot" n="2)"><lb n="ple_196.043"/> Vgl. Gustav Freytag a. a. O. S. 237, 238.</note> </p> <p><lb n="ple_196.023"/> Selbstverständlich soll mit diesen Betrachtungen nicht das Ende der <lb n="ple_196.024"/> Historiendichtung proklamiert werden. Nur steigende Schwierigkeiten, keine <lb n="ple_196.025"/> Unmöglichkeiten treten ihr hindernd entgegen. Und man darf vielleicht <lb n="ple_196.026"/> mit einer gewissen Zuversicht hoffen, daß der Dichter kommen wird, dem <lb n="ple_196.027"/> es gelingt, jene Schwierigkeiten zu überwinden und uns eine neue geschichtliche <lb n="ple_196.028"/> Poesie zu schaffen, die unserem Bedürfnis, unserer Weise, Geschichte <lb n="ple_196.029"/> zu sehen, entspricht. Ansätze dazu fehlen nicht. Auf Konrad <lb n="ple_196.030"/> Ferdinand Meyer ist bereits hingewiesen, und daß die jüngere Dichtergeneration <lb n="ple_196.031"/> wenigstens die Richtung sowohl wie die Hindernisse kennt, <lb n="ple_196.032"/> die ihr entgegenstehen, ist immerhin ein gutes Zeichen.</p> <p><lb n="ple_196.033"/> Inzwischen geht aus diesen Betrachtungen doch <hi rendition="#g">eines</hi> mit Sicherheit <lb n="ple_196.034"/> und Klarheit hervor, daß es nämlich nicht Willkür noch Zufall, sondern <lb n="ple_196.035"/> innere Notwendigkeit ist, wenn die Dichter unserer Zeit sich mit fast ausschließlicher <lb n="ple_196.036"/> Vorliebe dem dritten der vorhandenen Gebiete, dem unmittelbaren <lb n="ple_196.037"/> Leben der Gegenwart zuwenden, wenn die sozialen Gegensätze, die <lb n="ple_196.038"/> seelischen Zustände und Verwicklungen des modernen Menschen ihnen fast <lb n="ple_196.039"/> durchweg die Gegenstände dichterischer Behandlung darbieten. Denn nur hier </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [196/0210]
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ist. Aber eine solche Methode ist nur da möglich, wo das ple_196.002
Publikum die historische Wirklichkeit nicht kennt oder wenigstens kein ple_196.003
lebendiges Bild von ihr hat. Schon Gustav Freytag bemerkt sehr richtig, ple_196.004
daß der Dichter in dieser Hinsicht von dem Wissensstande seines Publikums ple_196.005
abhängt. 1) Denn es ist unerträglich und muß jede künstlerische ple_196.006
Wirkung hemmen oder vernichten, wenn die Vorgänge, die wir auf der ple_196.007
Bühne sehen oder gar in ruhiger Beschaulichkeit lesen, mit unserem Wirklichkeitssinn ple_196.008
in Zwiespalt geraten, wenn unser besseres Wissen dem Dichter ple_196.009
widerspricht.
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Kurz, die geschichtlichen Stoffe haben die Vorzüge verloren, die ple_196.011
ihnen früher mit dem Mythos gemeinsam waren. Sie haben ihre Bildsamkeit ple_196.012
eingebüßt, und selbst die Großzügigkeit der Vorgänge gerät mit dem ple_196.013
psychologischen Bedürfnis und dem verfeinerten historischen Sinn des ple_196.014
modernen Geistes leicht in Widerspruch. Wir lassen uns die Al Fresco- ple_196.015
Malerei Dahnscher Romane oder Wildenbruchscher Tragödien gefallen, ple_196.016
allein sie haben, auch wenn sie uns im Augenblick erschüttern, für unser ple_196.017
Gefühl etwas Opernhaftes und wir behalten keine nachhaltige Wirkung ple_196.018
zurück. Noch weit entschiedener aber wachsen Ansprüche und Schwierigkeiten, ple_196.019
wenn der Dichter einen Stoff aus der nahen und nächsten Vergangenheit ple_196.020
behandelt. Man sieht wohl den Grund, warum es bisher zu ple_196.021
einer dichterischen Gestaltung Friedrichs des Großen noch niemals, zu ple_196.022
einer solchen Napoleons nur vereinzelterweise gekommen ist. 2)
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Selbstverständlich soll mit diesen Betrachtungen nicht das Ende der ple_196.024
Historiendichtung proklamiert werden. Nur steigende Schwierigkeiten, keine ple_196.025
Unmöglichkeiten treten ihr hindernd entgegen. Und man darf vielleicht ple_196.026
mit einer gewissen Zuversicht hoffen, daß der Dichter kommen wird, dem ple_196.027
es gelingt, jene Schwierigkeiten zu überwinden und uns eine neue geschichtliche ple_196.028
Poesie zu schaffen, die unserem Bedürfnis, unserer Weise, Geschichte ple_196.029
zu sehen, entspricht. Ansätze dazu fehlen nicht. Auf Konrad ple_196.030
Ferdinand Meyer ist bereits hingewiesen, und daß die jüngere Dichtergeneration ple_196.031
wenigstens die Richtung sowohl wie die Hindernisse kennt, ple_196.032
die ihr entgegenstehen, ist immerhin ein gutes Zeichen.
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Inzwischen geht aus diesen Betrachtungen doch eines mit Sicherheit ple_196.034
und Klarheit hervor, daß es nämlich nicht Willkür noch Zufall, sondern ple_196.035
innere Notwendigkeit ist, wenn die Dichter unserer Zeit sich mit fast ausschließlicher ple_196.036
Vorliebe dem dritten der vorhandenen Gebiete, dem unmittelbaren ple_196.037
Leben der Gegenwart zuwenden, wenn die sozialen Gegensätze, die ple_196.038
seelischen Zustände und Verwicklungen des modernen Menschen ihnen fast ple_196.039
durchweg die Gegenstände dichterischer Behandlung darbieten. Denn nur hier
1) ple_196.040
„Der Dichter wird sich zu hüten haben, daß in seiner Erfinduug nicht ein für ple_196.041
seine Zeitgenossen empfindlicher Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete.“ ple_196.042
(Technik des Dramas S. 1510.)
2) ple_196.043
Vgl. Gustav Freytag a. a. O. S. 237, 238.
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