Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_200.001 ple_200.027 ple_200.001 ple_200.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0214" n="200"/> <p><lb n="ple_200.001"/> Scheidet somit die Lyrik aus unseren Betrachtungen aus, so gelten <lb n="ple_200.002"/> die bisher erörterten beiden Momente des Stilgegensatzes für die beiden <lb n="ple_200.003"/> übrigbleibenden Gattungen in gleicher Weise. Anders verhält es sich <lb n="ple_200.004"/> mit dem dritten Formenelement: der Komposition. Es ist an sich klar, <lb n="ple_200.005"/> daß der Idealstil zu einem kunstvollen, zugleich einheitlich strengen und <lb n="ple_200.006"/> harmonisch gegliederten Bau neigen muß, während der Naturalismus das <lb n="ple_200.007"/> lockere Gewebe, in welchem die Wirklichkeit Handlungen und Ereignisse <lb n="ple_200.008"/> zu verknüpfen pflegt, nachahmt und dabei die Elemente künstlerischer <lb n="ple_200.009"/> Form, Steigerung und Kontrastwirkung, nur nebenbei im Auge behalten <lb n="ple_200.010"/> kann. Allein tatsächlich tritt dieser Gegensatz nur auf dem Gebiete der <lb n="ple_200.011"/> epischen Dichtung, insbesondere also im Roman in voller Schärfe hervor. <lb n="ple_200.012"/> Für das Drama, das zur Darstellung bestimmte wenigstens, treten die Prinzipien <lb n="ple_200.013"/> des Stils notwendigerweise hinter den Forderungen der Bühne zurück, <lb n="ple_200.014"/> und wir haben schon in dem Abschnitt über die dramatische Kunst gesehen, <lb n="ple_200.015"/> daß der Naturalismus hier, wenn auch aus ganz anderen Gründen, <lb n="ple_200.016"/> womöglich noch geschlossenere Einheit und Straffheit der Form erstrebt <lb n="ple_200.017"/> als sein Widerpart. Soll ein Ausschnitt aus dem Leben wirklichkeitsgetreu <lb n="ple_200.018"/> mit seinen Einzelheiten auf der Bühne wiedergegeben werden, so <lb n="ple_200.019"/> darf derselbe in keiner Hinsicht zu weit ausgedehnt werden. Ein oder <lb n="ple_200.020"/> höchstens zwei Milieus, eine geringe Anzahl von Personen, ein zusammengedrängter <lb n="ple_200.021"/> Zeitverlauf bilden Grenzen, die der naturalistische Dichter nicht <lb n="ple_200.022"/> wohl überschreiten kann. Die Einheiten der klassischen Tragödie der <lb n="ple_200.023"/> Franzosen, die für das Drama idealen Stils nur äußerliche Regeln sind, <lb n="ple_200.024"/> werden hier zur Notwendigkeit. Daher weist denn, wie uns S. 181 entgegentrat, <lb n="ple_200.025"/> fast das gesamte naturalistische Drama der Gegenwart diese strenge <lb n="ple_200.026"/> Einheit der Komposition auf.</p> <p><lb n="ple_200.027"/> Weit freier steht der Romandichter seinem Stoffe gegenüber. Mit <lb n="ple_200.028"/> dem Verlauf der Erzählung ist es eher möglich, den Verlauf des wirklichen <lb n="ple_200.029"/> Lebens nachzubilden als mit der eingeengten Bühnenhandlung. Auch <lb n="ple_200.030"/> der Epiker kann kunstvoll zusammendrängen, wie es etwa Goethe in Hermann <lb n="ple_200.031"/> und Dorothea getan hat, die Handlung zu großen und entscheidenden <lb n="ple_200.032"/> Katastrophen zuspitzen und in dramatischer Weise zur Peripetie fortschreiten, <lb n="ple_200.033"/> etwa wie Dahn seinen „Kampf um Rom“ aufgebaut hat. Allein nichts <lb n="ple_200.034"/> hindert ihn, von dieser dramatischen Art der Erzählung abzugehen und dafür <lb n="ple_200.035"/> Geschehnisse äußerer und namentlich innerer Art so darzustellen, wie sie <lb n="ple_200.036"/> sich im Leben zu ereignen pflegen. Die wichtigen Ereignisse und Katastrophen, <lb n="ple_200.037"/> sagt Schopenhauer einmal, kommen nicht mit Trompeten und <lb n="ple_200.038"/> Fanfaren zum Vordertor herein, sondern ganz leise durch die Hintertür. <lb n="ple_200.039"/> Nicht <hi rendition="#g">ein</hi> außergewöhnlicher Vorgang pflegt das äußere, noch weniger <lb n="ple_200.040"/> aber das innere Leben der Menschen zu wandeln: vielmehr ein Glied <lb n="ple_200.041"/> reiht sich ans andere, unscheinbar zunächst wächst und erstarkt die Kette, <lb n="ple_200.042"/> die den Menschen bindet und in gewollte oder ungewollte Bahnen zieht. <lb n="ple_200.043"/> Eine entscheidende Leidenschaft wird in Wirklichkeit selten, wie in den </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [200/0214]
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Scheidet somit die Lyrik aus unseren Betrachtungen aus, so gelten ple_200.002
die bisher erörterten beiden Momente des Stilgegensatzes für die beiden ple_200.003
übrigbleibenden Gattungen in gleicher Weise. Anders verhält es sich ple_200.004
mit dem dritten Formenelement: der Komposition. Es ist an sich klar, ple_200.005
daß der Idealstil zu einem kunstvollen, zugleich einheitlich strengen und ple_200.006
harmonisch gegliederten Bau neigen muß, während der Naturalismus das ple_200.007
lockere Gewebe, in welchem die Wirklichkeit Handlungen und Ereignisse ple_200.008
zu verknüpfen pflegt, nachahmt und dabei die Elemente künstlerischer ple_200.009
Form, Steigerung und Kontrastwirkung, nur nebenbei im Auge behalten ple_200.010
kann. Allein tatsächlich tritt dieser Gegensatz nur auf dem Gebiete der ple_200.011
epischen Dichtung, insbesondere also im Roman in voller Schärfe hervor. ple_200.012
Für das Drama, das zur Darstellung bestimmte wenigstens, treten die Prinzipien ple_200.013
des Stils notwendigerweise hinter den Forderungen der Bühne zurück, ple_200.014
und wir haben schon in dem Abschnitt über die dramatische Kunst gesehen, ple_200.015
daß der Naturalismus hier, wenn auch aus ganz anderen Gründen, ple_200.016
womöglich noch geschlossenere Einheit und Straffheit der Form erstrebt ple_200.017
als sein Widerpart. Soll ein Ausschnitt aus dem Leben wirklichkeitsgetreu ple_200.018
mit seinen Einzelheiten auf der Bühne wiedergegeben werden, so ple_200.019
darf derselbe in keiner Hinsicht zu weit ausgedehnt werden. Ein oder ple_200.020
höchstens zwei Milieus, eine geringe Anzahl von Personen, ein zusammengedrängter ple_200.021
Zeitverlauf bilden Grenzen, die der naturalistische Dichter nicht ple_200.022
wohl überschreiten kann. Die Einheiten der klassischen Tragödie der ple_200.023
Franzosen, die für das Drama idealen Stils nur äußerliche Regeln sind, ple_200.024
werden hier zur Notwendigkeit. Daher weist denn, wie uns S. 181 entgegentrat, ple_200.025
fast das gesamte naturalistische Drama der Gegenwart diese strenge ple_200.026
Einheit der Komposition auf.
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Weit freier steht der Romandichter seinem Stoffe gegenüber. Mit ple_200.028
dem Verlauf der Erzählung ist es eher möglich, den Verlauf des wirklichen ple_200.029
Lebens nachzubilden als mit der eingeengten Bühnenhandlung. Auch ple_200.030
der Epiker kann kunstvoll zusammendrängen, wie es etwa Goethe in Hermann ple_200.031
und Dorothea getan hat, die Handlung zu großen und entscheidenden ple_200.032
Katastrophen zuspitzen und in dramatischer Weise zur Peripetie fortschreiten, ple_200.033
etwa wie Dahn seinen „Kampf um Rom“ aufgebaut hat. Allein nichts ple_200.034
hindert ihn, von dieser dramatischen Art der Erzählung abzugehen und dafür ple_200.035
Geschehnisse äußerer und namentlich innerer Art so darzustellen, wie sie ple_200.036
sich im Leben zu ereignen pflegen. Die wichtigen Ereignisse und Katastrophen, ple_200.037
sagt Schopenhauer einmal, kommen nicht mit Trompeten und ple_200.038
Fanfaren zum Vordertor herein, sondern ganz leise durch die Hintertür. ple_200.039
Nicht ein außergewöhnlicher Vorgang pflegt das äußere, noch weniger ple_200.040
aber das innere Leben der Menschen zu wandeln: vielmehr ein Glied ple_200.041
reiht sich ans andere, unscheinbar zunächst wächst und erstarkt die Kette, ple_200.042
die den Menschen bindet und in gewollte oder ungewollte Bahnen zieht. ple_200.043
Eine entscheidende Leidenschaft wird in Wirklichkeit selten, wie in den
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